Plattenbaugefühle: Jugendroman
anderen Galaxie angekommen bin.
HEUTE … SEIN
E s gibt keinen Grund, mich zu entführen!« wage ich beleidigt zu antworten und greife nach dem Glas Cola.
»Ich habe dich nicht entführt und ich habe dir wirklich Wichtiges zu berichten.«
»Da bin ich aber jetzt neugierig!«
»Ich bin der Cousin von Afyon« erklärt Erol, und ich erinnere mich an meinen ersten Eindruck – mir war ja die Ähnlichkeit gleich aufgefallen. »Ich bin in Kranichstein aufgewachsen und kenne ihn von klein auf. Ich bin 24 und fühlte mich immer etwas verantwortlich für ihn. Warum? Wahrscheinlich weil ich damals schon fühlte, dass wir uns sehr ähnlich sind.«
Was erzählt er mir denn da? Wayne? Wayne interessiert es?
»Nun, es ist so … dass ich, als ich siebzehn war, zwei Jahre vor dem Abitur, in die Türkei geschickt wurde. Das war sehr schlimm für mich. Genauso schlimm war das für Afyon, denn ich war wie sein großer Bruder, vielleicht sogar fast etwas wie ein Vater.«
»Und?« Mein Kopf kann immer noch keinen Zusammenhang erkennen.
»Ich wurde gezwungen von meiner Familie. Sie hatten mich mit einem Jungen erwischt. Mit meinem ersten Freund. Wir waren noch gar nicht lange zusammen, frisch verliebt sozusagen. Und nachdem wir drei Monate von Verdächtigungen und Gerüchten unbehelligt waren, wurden wir zu sorglos. Wir küssten uns gerade auf einer Bank, die an diesem Wall zur Straße hin im K6 steht …«, erzählt er mit einer angenehm warmen Stimme, die nach unserem ersten Wortwechsel zum Vorschein kommt, »du weißt sicher, welchen Ort ich meine.«
»Ja«, sage ich geschockt, »in der Nähe habe ich gewohnt.« Dannys Bank schießt mir durch den Kopf, das Bild vom wütenden Afyon gleich hinterher.
»Ich wurde dort erwischt. Dann in die Türkei geschickt, um wieder normal zu werden!« Beim Wort ›normal‹ benutzt er seine Finger, um Anführungsstriche zu setzen, und David, sein Freund, der auf dem anderen Sofa lümmelt, lacht. Erol erzählt von seinem Leben in der Turkei – von den Familienmitgliedern, die ihn kritisch beäugten, ihn schlugen, wenn sie dachten, er hätte gerade eine schwule Geste gemacht. Was erzählt er mir da? Ich bekomme Mitgefühl mit meinem Entführer. Ist das eine Masche? Meint er das ernst? Dann sehe ich die Tränen in seinen Augen. David hält seine Hand.
»Danke, Schatz!« sagt Erol zu ihm. Die Szene gefällt mir, sie sehen so vertraut miteinander aus, sie scheinen sich sehr zu lieben. »Es war die Hölle für mich, zwei Jahre lang« Erols Stimme findet sich wieder. Er berichtet über diese Zeit, die er ohne Freunde, Liebe und Geborgenheit überstand. Von der Militärzeit und der Schikane, die er dort durchmachte. Von der Möglichkeit, anderen Jungs näherzukommen und von seiner Flucht nach Deutschland. »In Berlin angekommen, traf ich David wieder – Zufall oder Schicksal – das war nämlich mein damaliger Freund aus Kranichstein.« Sie schauen sich glücklich an. »Er heiratete mich!« sagt er und beide präsentieren mir ihre Eheringe. Das rührt mich.
»Und jetzt kommt das wirklich Unglaubliche!« sagt Erol plötzlich lauter, »vor einigen Wochen traf ich per MSN auf Afyon.« Der dunkelhaarige Erol berichtet von Gesprächen, die er mit Afyon geführt habe. Es war die Zeit, als Afyon und ich uns in Kranichstein kennenlernten, »er hat über dich erzählt«, dabei schaut Erol mir tief in die Augen und fährt fort mit seiner Darstellung der Familie und der Probleme, die immer wieder auftauchten, als die Eltern erfuhren, dass er, der abtrünnige Cousin, mit Afyon in Kontakt stehe.
»Neulich rief überraschend Afyon bei mir an, und ich erfuhr, dass er sich in Berlin befindet. Er kam zu mir, wir hatten uns so vieles zu erzählen, und er verbrachte die Nacht hier.« Das ist also der ›Freund‹ von dem Afyon sprach. Ich Spast! Ich habe ihm nicht geglaubt! Erol erzählt, dass er über Afyons Zustand erst am nächsten Tag erfahren habe, über Barbara, meine Mutter und meine Großmutter. »Es ist schwierig, mit ihm zu reden, auch auf türkisch«, sagt er, und mir kommen die Bilder hoch, als ich mir Gedanken machte über Afyons Probleme. Ich erfahre endlich die Hintergründe über das Schwulsein bei türkischen Migranten, so wie Erol mir das erzählt, so wie er auch Afyon davon erzählt hat und plötzlich geht mir Afyons Satz wieder durch den Kopf: ›Jonas, Jonas! In welcher Welt lebst du denn eigentlich?‹ Jetzt wird mir alles klarer. Meine Welt ist offener, toleranter, liberaler. Die Welt der
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