Plattenbaugefühle: Jugendroman
Deutschen. Erol benutzt in seinen Erzählungen oft das Wort ›Diskriminierung‹ und ich schätze mich glücklich, dass ich noch nicht mal in Kranichstein dieses Gefühl erlebt habe, nicht an meiner Person – wenn man von Ismets sexueller Belästigung in der Umkleidekabine absieht.
David bringt Schokolade und Chips, während Erol die Fleet Foxes spielt – ich fühle mich ihm gleich sehr verbunden. Ich habe das Gefühl, mit Freunden zusammenzusitzen. Voll krass! Seine Erzählungen über das Leben der Schwulen mit Migrationshintergrund faszinieren und erschrecken mich zugleich.
»Afyon wusste nicht, was er machen soll, er hatte Angst«, verteidigt ihn Erol.
»Ich hatte auch Angst!« sage ich und erzähle von meinen Erfahrungen. Die beiden Männer hören mir geduldig zu.
»Und wie hättest du reagiert, wenn deine Familie dich als Schwulen nicht anerkannt hätte?«
Diese Frage hatte ich mir noch nie gestellt.
Die Zeit verfliegt, wie immer, wenn man sich wohl fühlt. Wir hören Musik, David und Erol erzählen von ihrer Jugend, ihren ersten Begegnungen, und ich lache viel. Die beiden sind so schön zusammen anzuschauen, wie meine Eltern in den besten Zeiten ihrer Ehe, früher, immer am Turteln, immer am Kabbeln, liebevoll und zärtlich, sich gegenseitig aufziehend und einander gut kennend. Werde ich auch so etwas finden? Mit Afyon ist das alles nicht so, war es nie, wird es wohl nie sein, und jetzt erst recht nicht, jetzt, da er in die Türkei geschickt wird und wohl etwas Ähnliches mitmachen wird wie sein großer Cousin. Wird er auch nach Deutschland flüchten? Wird er dann sein eigenes Leben leben?
»Ich habe Afyon lange befragt, wie es mit dir gelaufen ist«, sagt Erol in einem ernsten Moment. »Er kann nicht gut reden, er kommt aus einem Umfeld, in dem nicht miteinander geredet wird, sondern Dinge von oben nach unten befohlen werden.«
Ich höre zu, doch meine Gedanken sind bei Afyon. Wo wird er jetzt sein? Was wird er fühlen? Erol erzählt über die Liebe, sie kann viele Probleme kompensieren und vieles vergessen machen – aber nicht, wenn man noch so ungefestigt sei wie Afyon, unsicher und abhängig von seinen Eltern, von seiner Community. »Er bewundert dich!« sagt er zu mir und ich schaue ihn irritiert an – Afyon bewundert mich? Erol erzählt, was er von Afyon erfahren hat in Form von Andeutungen, sagt »er hat sich in dich verschossen, dich attraktiv gefunden, geil, möchte ich einmal sagen« und bei diesem ›geil‹ müssen wir alle lachen, weil er es so hervorgehoben hat in seiner Erzählung, wieder mit Anführungsstrichen. »Das aber reicht nicht aus für eine Beziehung.«
»Ich weiß…«
Er schaut mich dabei an. Er spricht das aus, was mir die letzten Tage ebenfalls durch den Kopf ging. Und erst recht, seitdem ich Paul kenne.
»Trotzdem, er hätte etwas sagen können, sich verabschieden«, sage ich, immer noch nachdenklich.
»Es gab keinen Grund für ihn, sich zu verabschieden.«
»Wieso?« Was meint er denn jetzt? Warum schweigt er mich an. Warum schaut er mich so komisch an?
»Erol?« Davids Stimme aus der Küche lässt mich zusammenzucken. »Es ist gleich so weit!«
»Ja!« ruft Erol zurück, steht auf und geht in den Flur hinein.
Ich höre vom Wohnzimmer aus, wie die Eingangstür aufgeschlossen wird, höre zwei Stimmen, die mir bekannt vorkommen und Schritte. Sekunden später steht Afyon im Türrahmen. Und neben ihm Aris. Ich springe auf Afyon zu, drücke ihn ganz fest und wiederhole tausendmal »du bist nicht in der Türkei!«, er lächelt »ich bin hier!« antwortet er und drückt mich fest an sich.
Als ich mich von ihm löse, kommt Aris auf mich zu, ich wundere mich über sein Erscheinen, er zwinkert mir zu, Erol und David stellen sich ihm vor.
»Ok!« rufe ich laut, »kann jemand mich aufklären?« Ich ziehe Afyon zu mir, er lächelt mich an.
»Du warst sein erster Freund, wenn man das so nennen kann«. Erol steht vor uns, ihm steht die Freude ins Gesicht geschrieben, und er erzählt, was er alles unternommen habe, als Afyon nach Berlin kam und Erol über seine Situation erfuhr. Er habe versucht, seine Familie zu erreichen, ihnen sogar einen Brief geschrieben, in dem er ihnen versuchte alles zu erklären. Er habe eindringlich auf sie eingeredet, dass sie ihren Sohn verlieren würden, wenn sie seine Identität nicht respektierten und es dann kein Zurück mehr gebe. Dass sie die Chance hätten, eine neue Basis für Afyon zu schaffen. Erol habe vorgeschlagen, dass Afyon
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