Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Plattform

Plattform

Titel: Plattform Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
Vom Netzwerk:
im Laufe des 20. Jahrhunderts allmählich. Die Europäer, zumindest einige unter ihnen, arbeiteten weiterhin, manchmal sogar sehr hart, aber sie taten es aus Interesse oder aus neurotischer Liebe zu ihrer Aufgabe; das unschuldige Bewußtsein ihres natürlichen Rechts, die Welt zu beherrschen und deren Geschicke zu lenken, war verschwunden. Infolge der angehäuften Anstrengungen blieb Europa ein reicher Kontinent; doch ich hatte die Intelligenz und die Hartnäckigkeit, die meine Vorfahren besaßen, ganz offensichtlich verloren. Als wohlhabender Europäer konnte ich in anderen Ländern für einen geringeren Preis Nahrung, Dienstleistungen und Frauen kaufen; als dekadenter Europäer sah ich, da ich mir meines bevorstehenden Todes bewußt und völlig egoistisch eingestellt war, keinen Grund, darauf zu verzichten. Ich war mir aber auch bewußt, daß diese Situation auf Dauer nicht haltbar war, daß Menschen wie ich unfähig waren, das Überleben einer Gesellschaft zu gewährleisten, und im Grunde sogar des Lebens nicht würdig waren. Mutationen würden stattfinden, fanden bereits statt, aber ich fühlte mich nicht wirklich davon betroffen. Meine einzige richtige Motivation bestand darin, so schnell wie möglich diesem Saustall den Rücken zu kehren. Der November war kalt und unfreundlich, ich las in der letzten Zeit nicht mehr so oft Auguste Comte. Wenn Valérie nicht da war, bestand meine einzige Ablenkung darin, durch die große Fensterwand die vorüberziehenden Wolken zu betrachten. Große Schwärme von Staren bildeten sich am Spätnachmittag über Gentilly und beschrieben schräge Ebenen und Spiralen am Himmel. Ich war geneigt, einen Sinn darin zu sehen, sie als Vorboten einer Apokalypse zu deuten.

    13

        Eines Abends, auf dem Nachhauseweg von der Arbeit, traf ich Lionel; ich hatte ihn seit der Tropic Thai-Reise nicht wiedergesehen, die auch schon fast ein Jahr zurücklag. Seltsamerweise erkannte ich ihn dennoch sofort. Ich war etwas überrascht, daß er einen so starken Eindruck hinterlassen hatte; ich konnte mich nicht einmal erinnern, damals mit ihm gesprochen zu haben.
        Es gehe ihm gut, erklärte er mir. Sein rechtes Auge war mit einem runden Wattepflaster bedeckt. Er habe einen Betriebsunfall erlitten, irgend etwas sei explodiert; aber es gehe schon wieder, man habe ihn rechtzeitig behandelt, er würde 50% seiner Sehkraft auf diesem Auge zurückgewinnen. Ich lud ihn ein, in einem Café in der Nähe des Palais Royal ein Glas mit mir zu trinken. Ich fragte mich, ob ich gegebenenfalls auch Robert, Josiane und die anderen Teilnehmer wiedererkennen würde; vermutlich ja. Das war ein ziemlich betrüblicher Gedanke; mein Gedächtnis füllte sich ständig mit völlig nutzlosen Informationen an. Als menschliches Wesen besaß ich eine besonders gut ausgebildete Fähigkeit im Wiedererkennen und Speichern von Bildern anderer menschlicher Wesen. Nichts ist dem Menschen nützlicher als der Mensch selbst. Der Grund, warum ich Lionel eingeladen hatte, war mir nicht recht klar, das Gespräch würde vermutlich sehr bald ins Stocken geraten. Um es zu verhindern, fragte ich ihn, ob er Gelegenheit gehabt habe, nach Thailand zurückzukehren. Nein, er hätte es zwar gern getan, aber die Reise sei leider ziemlich teuer. Ob er andere Teilnehmer wiedergesehen habe? Nein, keinen. Da erzählte ich ihm, daß ich Valérie wiedergetroffen hatte, an die er sich vielleicht noch erin nere, und daß wir inzwischen sogar zusammenlebten. Er schien sich über diese Nachricht zu freuen, wir hatten offensichtlich einen guten Eindruck bei ihm hinterlassen. Er habe nicht oft die Gelegenheit zu reisen, sagte er zu mir; und dieser Urlaub in Thailand sei eine seiner schönsten Erinnerungen überhaupt. Ich war leicht gerührt über seine einfache Art, sein naives Glücksstreben. Und da hatte ich eine Regung, die ich auch heute noch, wenn ich daran zurückdenke, als gut bezeichnen könnte. Ich bin im großen und ganzen kein guter Mensch, Güte ist kein Charakterzug, der mich auszeichnet. Der humanitäre Gedanke widert mich an, das Schicksal der anderen ist mir im allgemeinen gleichgültig, ich kann mich nicht daran erinnern, jemals das geringste Gefühl von Solidarität empfunden zu haben. Trotzdem erklärte ich Lionel an jenem Abend, daß Valerie in der Tourismusbranche arbeite, daß ihre Firma in Kürze einen neuen Club in Krabi eröffnen werde und daß ich ihm ohne Schwierigkeiten einen einwöchigen Aufenthalt zum halben Preis vermitteln

Weitere Kostenlose Bücher