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Titel: Plattform Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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aufreizend oder ließen die Zunge über die Lippen gleiten: Die Sache war kaum mißzuverstehen. So etwas, meinte er zu Valérie, wäre in Frankreich niemals durchgegangen. Es ist seltsam festzustellen, sagte er wie im Selbstgespräch, daß bei der Durchsetzung des europäischen Gedankens der Ruf nach einem Staatenbund immer lauter wird, im Bereich der Sittengesetzgebung jedoch keinerlei Vereinheitlichung zu bemerken ist. Während in Holland und Deutschland die Prostitution anerkannt und rechtlich eindeutig geregelt ist, gibt es in Frankreich eine Menge Leute, die für deren Abschaffung oder sogar für die Bestrafung der Kunden eintreten, wie es in Schweden üblich ist. Valérie blickte ihn überrascht an : Er war im Augenblick etwas seltsam, versank immer öfter in unergiebige, gegenstandslose Grübeleien. Sie dagegen arbeitete pausenlos, ging methodisch und mit kühler Zielstrebigkeit vor, traf häufig sogar Entscheidungen, ohne ihn zu Rate zu ziehen. Sie war das eigentlich nicht gewohnt, und manchmal spürte ich, daß sie etwas hilflos zögerte; die Unternehmensleitung mischte sich nicht ein, ließ ihnen völlig freie Hand. »Sie warten ab, das ist alles, sie wollen sehen, ob wir damit Erfolg haben oder auf die Schnauze fallen«, vertraute sie mir eines Tages mit verhaltener Wut an. Sie hatte recht, das war eindeutig, ich konnte ihr nicht widersprechen. Das waren nun mal die Spielregeln.
        Ich selbst hatte nichts dagegen einzuwenden, daß die Sexualität Einzug in den Bereich der Marktwirtschaft hielt. Es gab viele Wege, um zu Geld zu kommen, ehrliche und unehrliche, geistige oder im Gegenteil brutale, körperliche Methoden. Man konnte aufgrund von Intelligenz, von Talent, von Kraft oder von Mut und sogar von Schönheit zu Geld kommen; man konnte auch durch einen banalen Glücksfall dazu kommen. Meistens kam man wie in meinem Fall durch eine Erbschaft zu Geld ; dann wurde das Problem auf die vorherige Generation verschoben. Ganz unterschiedliche Leute waren auf dieser Erde zu Geld gekommen: ehemalige Hochleistungssportler, Gangster, Künstler, Mannequins, Schauspieler; eine große Anzahl von Unternehmern und gewieften Finanzleuten; auch ein paar Techniker und seltener ein paar Erfinder. Manchmal kam man auch durch rein mechanische Anhäufung zu Geld; oder im Gegenteil durch einen von Erfolg gekrönten mutigen Coup. All das ergab kaum Sinn, spiegelte aber eine große Vielseitigkeit wider. Im Gegensatz dazu waren die Kriterien der sexuellen Wahl übertrieben einfach: Sie beschränkten sich auf Jugend und körperliche Schönheit. Diese Eigenschaften hatten gewiß einen Preis, aber keinen unendlichen Preis. Die Situation war natürlich in den vorangegangenen Jahrhunderten, zu Zeiten, als die Sexualität im wesentlichen noch mit der Fortpflanzung verbunden war, anders gewesen. Um den genetischen Wert der Gattung zu erhalten, mußte die Menschheit damals unbedingt Kriterien wie Gesundheit, Stärke, Jugend und Körperkraft berücksichtigen wovon die Schönheit nur eine praktische Synthese war. Heute ist die Lage anders: Die Schönheit behielt ihren ganzen Wert, aber es handelte sich um einen narzißtischen Wert, aus dem man Kapital schlagen konnte. Wenn die Sexualität also tatsächlich Eingang in den Sektor der Tauschwaren finden sollte, bestand die beste Lösung vermutlich darin, aufs Geld zurückzugreifen, das universale Tauschmittel, das es bereits erlaubte, ein genaues Äquivalent für die Intelligenz, das Talent und die technische Kompetenz zu gewährleisten, und das es bereits erlaubt hatte, die Meinungen, den Geschmack und die Lebensweise zu normieren. Im Gegensatz zu den Aristokraten erhoben die Reichen nicht den Anspruch, sich von der übrigen Bevölkerung durch ihre Natur zu unterscheiden; sie erhoben nur den Anspruch, reicher zu sein. Der seinem Wesen nach abstrakte Begriff des Geldes ist unabhängig von Rasse, Aussehen, Alter, Intelligenz oder Würde, ja unabhängig von überhaupt allen Dingen außer vom Geld. Meine europäischen Vorfahren hatten mehrere Jahrhunderte lang schwer gearbeitet; sie hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die Welt zu beherrschen und sie dann umzugestalten, und in gewisser Weise ist es ihnen gelungen. Sie machten es aus wirtschaftlichem Interesse und Freude an der Arbeit, aber auch weil sie an die Überlegenheit ihrer Zivilisation glaubten: Sie erfanden den Traum, den Fortschritt, die Utopie und die Zukunft. Dieses Bewußtsein einer zivilisatorischen Mission verlor sich jedoch

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