Plattform
komplexer, nuancierter Gedankengänge; es sei denn, er relativierte, was immer die Illusion der Komplexität und der Nuancierung hervorruft. Vor dem Bungalow wünschte ich Lionel eine gute Nacht. Die Atmosphäre war vom Summen der Insekten erfüllt; ich war mir so gut wie sicher, daß ich kein Auge zutun würde.
Ich öffnete die Tür, zündete erneut eine Kerze an und fand mich mehr oder weniger damit ab, mir Die Firma wieder vorzunehmen und noch ein bißchen zu lesen. Mücken näherten sich, manche verbrannten sich die Flügel in der Kerzenflamme, ihre Kadaver klebten in dem geschmolzenen Wachs; keine einzige setzte sich auf mich. Dabei war ich bis unter die Lederhaut mit nahrhaftem, köstlichem Blut gefüllt; aber sie machten automatisch kehrt, unfähig, die Geruchsschwelle des Hydroxyethyl und Carboxylat zu überwinden. Man konnte das pharmazeutische Labor Roche-Nicholas beglückwünschen, den Hersteller des Cinq sur Cinq Tropic. Ich blies die Kerze aus, zündete sie wieder an und sah dem immer dichter werdenden Ballet der dreckigen kleinen Flugmaschinen zu. Hinter der Zwischenwand hörte ich, wie Lionel leise in der Nacht schnarchte. Ich stand auf, steckte einen weiteren Wachsblock mit Zitronenkraut an, dann ging ich pissen. Ein rundes Loch war im Fußboden des Badezimmers ausgespart; es führte direkt in den Fluß. Man hörte Geplätscher und das Geräusch von Flossen; ich versuchte, nicht daran zu denken, was sich dort unten befand. Als ich mich gerade wieder ins Bett legte, furzte Lionel lange. »Recht hast du, Alter!« stimmte ich ihm kräftig zu. »Wie Martin Luther schon gesagt hat, es gibt nichts Schöneres, als in einen Schlafsack zu furzen.« Meine Stimme hallte seltsam durch die Nacht, übertönte das Rauschen des Wassers und das ununterbrochene Surren der Insekten. Der realen Welt zuzuhören war schon als solches ein Leid. »Mit Gottes Reich ist es wie mit den Wattestäbchen!« brüllte ich erneut in die Nacht hinaus. »Wer Ohren hat zu hören, der höre!« Lionel drehte sich in seinem Bett auf die andere Seite und knurrte leicht, ohne aufzuwachen. Ich hatte keine andere Wahl: Ich mußte eine weitere Schlaftablette nehmen.
8
Von der Strömung mitgerissen, schwammen Grasbüschel den Fluß hinab. Der Gesang der Vögel setzte wieder ein, drang aus dem leicht nebligen Dschungel. Ganz unten im Süden, am Ausgang des Tales, zeichneten sich die birmanischen Berge in der Ferne ab. Ich hatte diese abgerundeten, bläulichen Formen, die von plötzlichen Einschnitten unterbrochen wurden, schon irgendwo gesehen. Vielleicht in den Landschaften der italienischen Maler des ausgehenden Mittelalters, bei einem Museumsbesuch während meiner Schulzeit. Die Gruppe war noch nicht wach; um diese Zeit war die Temperatur noch mild. Ich hatte sehr schlecht geschlafen.
Nach der Krise des Vorabends war beim Frühstück ein gewisser guter Wille an den Tischen zu spüren. Josette und René schienen bestens in Form zu sein ; die Ökofreaks aus dem Jura dagegen befanden sich in einem jämmerlichen Zustand; ich stellte es gleich fest, als sie heranhumpelten. Die Proletarier der vorherigen Generation, die den modernen Komfort, wenn er geboten wird, ohne Komplexe zu schätzen wissen, erweisen sich bei deutlich mangelndem Komfort viel widerstandsfähiger als ihre Kinder, selbst wenn diese ökobewegte Ansichten bekunden. Éric und Sylvie hatten die ganze Nacht kein Auge zugetan ; außerdem war Sylvie mit roten Schwellungen buchstäblich übersät.
»Ja, die Mücken sind richtig über mich hergefallen«, bestätigte sie bitter.
»Ich habe eine reizlindernde Creme gegen Insektenstiche, wenn Sie wollen. Sie ist sehr wirksam ; ich kann sie Ihnen holen. «
»Ja gern, das ist nett; aber lassen Sie uns erst einen Kaffee trinken.«
Der Kaffee war abscheulich, sehr klar, fast ungenießbar; wenigstens in dieser Hinsicht wichen wir nicht von der amerikanischen Norm ab. Das junge Paar aus dem Jura machte einen saublöden Eindruck, es tat mir fast weh, zuschauen zu müssen, wie ihr »ökologisches Paradies« vor ihren Augen rissig wurde; aber ich spürte, daß mir heute alles wehtun würde. Ich blickte wieder nach Süden. »Ich glaube, Birma ist sehr schön«, sagte ich halblaut eher zu mir selbst. Sylvie bestätigte ernsthaft: Es sei tatsächlich ein sehr schönes Land, sie habe das gleiche gehört; allerdings lehne sie es ab, nach Birma zu fahren. Es sei untragbar, sich zum Komplizen
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