Plattform
schwebte noch immer über den Ruinen. Es war drei Uhr nachmittags. Dem Guide Michelin zufolge mußte man drei Tage für die komplette Besichtigung und einen Tag für eine schnelle Besichtigung einplanen. Wir hatten in Wirklichkeit drei Stunden Zeit; das war der geeignete Augenblick, um die Videokameras hervorzuholen. Ich stellte mir Chateaubriand im Kolosseum mit einem Panasonic-Camcorder vor, wie er eine Zigarette rauchte; vermutlich eine Benson und keine Gauloises Legeres. Mit einer derart radikalen Religion konfrontiert, wären seine Ansichten vermutlich etwas anders ausgefallen; er hätte weniger Begeisterung für Napoleon gezeigt. Ich war mir sicher, daß er fähig gewesen wäre, ein hervorragendes Buch über den Genius des Buddhismus zu schreiben.
Josette und René langweilten sich etwas im Verlauf der Besichtigung; ich hatte den Eindruck, daß sie ziemlich schnell Leerlauf hatten. Babette und Léa ging es nicht anders. Die Ökofreaks aus dem Jura dagegen schienen in ihrem Element zu sein, genau wie die Naturheilpraktiker; sie verfügten über ein eindrucksvolles Arsenal von Fotoapparaten. Valérie war nachdenklich und schlenderte durch die Alleen; über die Steinplatten, zwischen denen Gras wuchs. Das ist Kultur, sagte ich mir, ziemlich beschissen, aber auch gut; jeder wird auf sein eigenes Nichts verwiesen. Aber abgesehen davon, wie hatten die Bildhauer der Ayutthaya-Epoche das bloß fertiggebracht? Wie hatten sie es fertiggebracht, ihren Buddha-Statuen einen so leuchtenden Ausdruck des Verstehens zu verleihen?
Nach dem Fall von Ayutthaya wurde es im thailändischen Reich für lange Zeit sehr ruhig. Die Hauptstadt wurde in Bangkok angesiedelt, und das war der Beginn der Rama-Dynastie. Zwei Jahrhunderte lang (und im Grunde bis heute) erlebte das Reich keinen nennenswerten Krieg mit einem Nachbarland und weder einen Bürgerkrieg noch einen Religionskrieg; es gelang ihm ebenfalls, jeder Form von Kolonisierung zu entgehen. Es gab auch keine großen Hungersnöte oder Epidemien. Unter solchen Bedingungen, wenn die Erde fruchtbar ist und reiche Ernten hervorbringt, wenn die Krankheiten ihre Macht nicht allzusehr spüren lassen, wenn eine friedfertige Religion ihr Gesetz im Gewissen der Menschen verbreitet, wachsen die Menschen und vermehren sich; sie führen im allgemeinen ein glückliches Leben. Jetzt war die Sache anders. Thailand war in die freie Welt eingetreten, also in die Marktwirtschaft; das Land hatte vor fünf Jahren eine schwere Wirtschaftskrise erlebt, bei der die Landeswährung die Hälfte ihres Wertes verloren hatte und die florierendsten Unternehmen an den Rand des Ruins geraten waren. Das war das erste Drama, das seit über zwei Jahrhunderten wirklich über das Land hereinbrach.
In recht erstaunlicher Stille gingen wir einer nach dem anderen zum Bus zurück. Bei Sonnenuntergang fuhren wir los. Anschließend ging es mit dem Nachtzug von Bangkok nach Surat Thani weiter.
Surat Thani - 816 ooo Einwohner - zeichnet sich allen Reiseführern zufolge dadurch aus, daß es völlig uninteressant ist. Die Stadt ist, und das ist alles, was man über sie sagen kann, ein unvermeidlicher Durchgangspunkt, wenn man die Fähre nach Koh Samui nehmen will. Dennoch leben dort Menschen, und der Guide Michelin macht uns darauf aufmerksam, daß die Stadt seit langem ein wichtiges Zentrum für Metallindustrie ist - und daß sie in der jüngsten Zeit eine gewisse Bedeutung im Bereich der Metallverarbeitung gewonnen hat.
Und was wären wir schon ohne Metallverarbeitung? Eisenerz wird in irgendwelchen obskuren Regionen gewonnen und mit Frachtern hertransportiert. Außerdem werden Werkzeugmaschinen hergestellt, meistens unter der Kontrolle japanischer Firmen. Die Synthese vollzieht sich in Städten wie Surat Thani: Das Ergebnis sind Autobusse, Eisenbahnwagen, Fähren; all das unter Lizenz von NEC, General Motors oder Fujimori. Das Endprodukt dient zum Teil dazu, westliche Touristen zu befördern oder westliche Touristinnen wie Babette und Léa.
Ich konnte das Wort an sie richten, ich war Teilnehmer der gleichen Reisegruppe. Ich konnte jedoch nicht den Anspruch erheben, ein potentieller Liebhaber zu sein, was von vornherein die möglichen Gesprächsthemen begrenzte; ich hatte aber vor der Abfahrt das gleiche Ticket bezahlt, daher konnte ich in gewisser Weise den Kontakt herstellen. Babette und Léa arbeiteten, wie sich herausstellte, in derselben PR-Agentur; sie veranstalteten im
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