Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Plattform

Plattform

Titel: Plattform Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
Vom Netzwerk:
Control von David G. Balducci; aber das war noch schlimmer. Diesmal war der Held kein Anwalt, sondern ein ungewöhnlich begabter junger Informatiker; er arbeitete hundertzehn Stunden in der Woche. Seine Frau dagegen war Anwältin und arbeitete neunzig Stunden in der Woche; sie hatten ein Kind. Die Rolle des Bösen wurde diesmal von einem »europäischen« Unternehmen übernommen, das sich betrügerischer Machenschaften bediente, um sich eines Marktes zu bemächtigen. Dieser Markt hätte normalerweise dem amerikanischen Unternehmen zufallen sollen, in dem der Held arbeitete. Im Laufe einer Unterhaltung mit den Bösen des europäischen Unternehmens zündeten sich diese »ohne irgendwelche Hemmungen« mehrere Zigaretten an; die Luft wurde dadurch buchstäblich verpestet, aber der Held schaffte es, durchzuhalten. Ich hob ein kleines Loch im Sand aus, um die beiden Bücher darin zu vergraben; das Problem war jetzt nur, daß ich etwas zu lesen finden mußte. Leben ohne zu lesen ist gefährlich, weil man sich mit dem Leben begnügen muß, das kann dazu führen, daß man Risiken eingeht. Im Alter von vierzehn Jahren hatte ich mich an einem Nachmittag, an dem der Nebel besonders dicht war, beim Skilaufen verirrt; ich war gezwungen, Lawinengräben zu überqueren. Ich erinnerte mich vor allem an die bleigrauen, niedrigen Wolken und die absolute Stille im Gebirge. Ich wußte, daß sich die Schneemassen bei einer heftigen Bewegung von mir oder sogar ohne ersichtlichen Grund mit einem Schlag lösen konnten, als Ergebnis eines minimalen Temperaturanstiegs oder eines Windstoßes. Ich würde mitgerissen und mehrere hundert Meter hinabgeschleudert bis an den Fuß der Felswände; dann wäre ich wahrscheinlich auf der Stelle tot. Dennoch hatte ich absolut keine Angst. Ich war betrübt, daß die Sache auf diese Weise verlaufen würde, betrübt für mich selbst und für die anderen. Ich hätte einen besser vorbereiteten, in gewisser Weise offizielleren Tod vorgezogen, mit einer Krankheit, einer Feier und Tränen. In Wirklichkeit bedauerte ich vor allem, daß ich nie den Körper einer Frau kennengelernt hatte. In den Wintermonaten vermietete mein Vater die erste Etage seines Hauses ; in jenem Jahr war es ein Architektenehepaar. Ihre Tochter Sylvie war ebenfalls vierzehn; sie schien sich von mir angezogen zu fühlen, auf jeden Fall suchte sie meine Gesellschaft. Sie war klein und anmutig, hatte schwarzes, lockiges Haar. War ihr Schamhaar ebenfalls schwarz und lockig? Diese Dinge gingen mir durch den Kopf, während ich mühsam den Berghang entlanglief. Seither habe ich mir oft über diese Besonderheit Gedanken gemacht: Angesichts der Gefahr, sogar des nahen Todes empfand ich keinerlei besondere Gefühlsregung, keinerlei Adrenalinstoß. Die Empfindungen, die die Extrem-Sportler anzogen, suchte ich vergeblich. Ich bin überhaupt nicht mutig und gehe der Gefahr so weit wie möglich aus dem Weg; aber wenn ich doch einmal damit konfrontiert werde, nehme ich sie mit der Ruhe eines Ochsen hin. Vermutlich braucht man darin keine tiefere Bedeutung zu suchen, es ist eine rein technische Angelegenheit, eine Frage der Dosierung der Hormone. Andere Menschen, die mir dem Anschein nach gleichen, empfinden offenbar beim Anblick eines Frauenkörpers absolut nichts, während mich das damals in eine unbeherrschbare Trance versetzte, was mir manchmal auch noch heute passieren kann. In den meisten Lebensumständen bin ich etwa so frei wie ein Staubsauger.

        Die Sonne begann allmählich zu brennen. Ich stellte fest, daß Babette und Léa an den Strand gekommen waren; sie hatten sich gut zehn Meter von mir entfernt in den Sand gelegt. Heute hatten sie nackte Brüste und trugen beide das gleiche brasilianische Bikinihöschen in schlichtem Weiß. Sie hatten anscheinend Männer kennengelernt, aber ich glaube nicht, daß sie mit ihnen schlafen würden: Die Typen waren nicht schlecht, eher muskulös, aber auch nicht umwerfend; kurz gesagt, eher Mittelklasse.
        Ich stand auf und nahm meine Sachen. Babette hatte eine Nummer von Elle neben ihr Badehandtuch gelegt. Ich warf einen Blick in Richtung Meer: Sie badeten und scherzten mit den Männern. Ich bückte mich schnell und steckte die Zeitschrift in meine Tasche ; dann suchte ich mir einen Platz am Strand.
        Das Meer war ruhig, Richtung Osten hatte man einen weiten Blick. Am gegenüberliegenden Ufer mußte wohl Kambodscha liegen oder Vietnam. Auf halber Entfernung vor dem Horizont konnte man eine

Weitere Kostenlose Bücher