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Titel: Plattform Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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die Wochenenden unter Leuten verbringt, die nicht die geringste Vorstellung davon haben, was es heißt zu arbeiten. Die mutige, tatkräftige Midge liebt Edward ohne jede Hoffnung auf Erwiderung ihrer Liebe. Edward betrachtet sich selbst als Versager: Er hat nie etwas im Leben erreicht, nicht einmal, Schrift steller zu werden ; er schreibt kleine Chroniken voll bitterer Ironie in irgendwelchen obskuren bibliophilen Zeitschriften. Er hat Henrietta dreimal einen Heiratsantrag gemacht, jedoch ohne Erfolg. Henrietta ist Johns Geliebte gewesen, sie bewundert seine strahlende Persönlichkeit, seine Kraft; aber John ist verheiratet. Seine Ermordung erschüttert das subtile Gleichgewicht aus ungestillten Sehnsüchten, das diese Figuren verbindet: Edward begreift endlich, daß Henrietta ihn nie lieben wird und daß er John einfach nicht gewachsen ist; dennoch gelingt es ihm nicht, sich Midge zu nähern, und sein Leben scheint endgültig verpfuscht zu sein. Von diesem Augenblick an wird Das Eulen haus zu einem seltsam ergreifenden Buch; es ist, als stünde man vor tiefen Wassern, in denen sich etwas regt. In der Szene, in der Midge Edward vor dem Selbstmord rettet und er ihr einen Heiratsantrag macht, hat Agatha Christie in der Darstellung des verwunderten Entzückens etwas sehr Schönes erreicht, das an Dickens erinnert.

        Sie schloß ihn in die Arme. Er lächelte ihr zu: »Du bist so warm, Midge ...so warm...«
         Ja, dachte Midge, so ist die Verzweiflung. Etwas Eisiges, eine unendliche Kälte und eine grenzenlose Einsamkeit. Sie hatte nie zuvor begriffen, daß die Verzweiflung eiskalt war; sie hatte sie sich immer sengend heiß, heftig, gewaltig vorgestellt. Aber nein. Die Verzweiflung war anders: Sie war ein bodenloser Abgrund eisiger Finsternis, unerträglicher Einsamkeit. Und die Sünde der Ver zweiflung, von der die Priester sprachen, war eine kalte Sünde, die darin bestand, sich von jedem menschlichen, warmen, lebendigen Kontakt loszusagen.

    Gegen einundzwanzig Uhr beendete ich meine Lektüre; ich stand auf und ging ans Fenster. Das Meer war ruhig, auf der Wasseroberfläche tanzten Myriaden von kleinen leuchtenden Flekken; ein schwacher Hof umgab die Mondscheibe. Ich wußte, daß an diesem Abend in Koh Lanta eine full moon rave party stattfand; Babette und Léa würden sicherlich mit einem guten Teil der Gäste hingehen. Es ist leicht, auf das Leben zu verzichten, leicht, das eigene Leben auszuklammern. In dem Augenblick, da die Vorbereitungen für die Abendveranstaltung begannen, Taxis am Hotel vorfuhren und auf den Fluren emsiges Treiben entstand, empfand ich nichts anderes als traurige Erleichterung.

    10

        Im nördlichen Teil des Isthmus von Kra, einem schmalen gebirgigen Landstrich, der den Golf von Thailand und die Andamanensee trennt, verläuft die Grenze zwischen Thailand und Birma. Auf der Höhe von Ranong im südlichsten Teil Birmas ist der Streifen nur noch zweiundzwanzig Kilometer breit; anschließend verbreitert er sich allmählich und bildet die malaiische Halbinsel.
        Von den Hunderten von Inseln, die die Andamanensee übersäen, sind nur einige bewohnt, und keine, die zum birmanischen Gebiet gehört, wird touristisch genutzt. Die Inseln der Bucht von Phang Nga im thailändischen Raum liefern dem Land dagegen 43% seiner jährlichen Tourismuseinkünfte. Die bedeutendste Insel ist Phuket, wo bereits Mitte der achtziger Jahre die ersten resorts entstanden, zumeist mit chinesischem oder französischem Kapital (der Südosten Asiens ist von der Gruppe Aurore sehr früh als einer ihrer wichtigsten Wachstumsmärkte angesehen worden). In dem Kapitel, das Phuket gewidmet ist, erreicht der Guide du Routard zweifellos seinen höchsten Grad an Gehässigkeit, vulgärem elitären Denken und aggressivem Masochismus. »Für manche«, schreiben sie gleich zu Beginn, »ist Phuket eine aufsteigende Insel; für uns geht es mit ihr eher abwärts.«
        »Wir müssen ja zwangsläufig auf diese > Perle im indischen Ozean< zu sprechen kommen», fahren sie fort. »Noch vor ein paar Jahren haben wir Phuket über alle Maßen gelobt: Sonne, traumhafte Strande, ein herrliches Leben. Selbst auf die Gefahr hin, einen Mißton in diesen Lobgesang zu bringen, müssen wir Ihnen die Wahrheit gestehen: Uns gefällt Phuket nicht mehr! Patong Beach, der berühmteste Strand, ist zu einer Betonwüste geworden. Der Anteil der Männer unter den Gästen hat stark zugenommen, ebenso wie die Anzahl der

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