Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Plattform

Plattform

Titel: Plattform Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
Vom Netzwerk:
finden.« Nach ein paar Sekunden fügte er mit strenger Stimme hinzu: »Chamfort.« Lionel betrachtete ihn bewundernd, er schien völlig von ihm fasziniert zu sein. Der Ausspruch kam mir
    fragwürdig vor: Wenn man »schwierig« und »unmöglich« gegeneinander austauschte, kam man der Wirklichkeit vielleicht etwas näher; aber ich hatte keine Lust, das Gespräch fortzusetzen, es war dringend nötig, wieder zu der normalen touristischen Situation zurückzufinden. Außerdem hatte ich allmählich Lust auf die 47, eine kleine, sehr schlanke, fast etwas magere Thailänderin; sie hatte kräftige Lippen und wirkte sehr nett, trug einen roten Minirock und schwarze Seidenstrümpfe. Robert, dem nicht entgangen war, daß meine Aufmerksamkeit nachgelassen hatte, wandte sich Lionel zu. »Ich glaube an die Wahrheit«, sagte er mit leiser Stimme, »ich glaube an die Wahrheit und an das Prinzip des Beweises.« Obwohl ich nur mit halbem Ohr hinhörte, erfuhr ich überrascht, daß er Mathematikprofessor gewesen war und in seiner Jugend vielversprechende Arbeiten über die Lie-Gruppen veröffentlicht hatte. Ich reagierte lebhaft auf diese Information: Es hatte also gewisse Gebiete, gewisse Sektoren der menschlichen Intelligenz gegeben, auf denen er als erster die Wahrheit deutlich erkannt habe und deren Gesetzmäßigkeiten er mit absoluter Gewißheit nachgewiesen habe. »Ja...«, stimmte er mir beinah wider Willen zu. »Selbstverständlich ist all das in einem allgemeineren Rahmen erneut nachgewiesen worden.« Anschließend hatte er unterrichtet, vor allem in den Vorbereitungsklassen für die grandes écoles; ohne rechte Freude hatte er die besten Jahre seines Lebens damit verbracht, beknackte Schüler, die nur von dem Gedanken besessen waren, in die École Polytechnique oder die École Centrale aufgenommen zu werden - und auch das würden nur die begabtesten unter ihnen schaffen -, zum Büffeln anzuhalten. »Ich hatte sowieso nicht das Zeug zu einem schöpferischen Mathematiker«, fuhr er fort. »Diese Gabe haben nur sehr wenige.« Gegen Ende der siebziger Jahre hatte er in einem Ausschuß des Erziehungsministeriums an der Reform des Mathematikunterrichts mitgearbeitet - völliger Stuß, wie er selbst zugab. Inzwischen war er dreiundfünfzig; seit er sich vor drei Jahren hatte pensio
    nieren lassen, widmete er sich dem Sextourismus. Er hatte dreimal geheiratet. »Ich bin Rassist...«, sagte er fröhlich. »Ich bin Rassist geworden... Eine der ersten Folgen des Reisens«, fügte er hinzu, »besteht darin, Rassenvorurteile zu stärken oder zu schaffen; denn wie stellt man sich schon die anderen vor, ehe man sie kennt? Genauso wie wir, selbstredend; erst nach und nach wird einem klar, daß die Wirklichkeit etwas anders aussieht. Wenn er kann, arbeitet der westliche Mensch ; häufig langweilt oder verbittert ihn seine Arbeit, aber er tut, als interessiere sie ihn: Das bemerkt man sehr oft. Mit fünfzig Jahren hatte ich den, Unterricht, die Mathematik und all das satt und habe beschlossen, die Welt zu entdecken. Ich hatte mich gerade zum drittenmal scheiden lassen; in sexueller Hinsicht hatte ich keine besonderen Erwartungen. Meine erste Reise ging nach Thailand; gleich danach bin ich nach Madagaskar gefahren. Seither habe ich nie mehr eine Weiße gevögelt; ich habe nicht einmal mehr den Wunsch danach empfunden. Glauben Sie mir«, fügte er hinzu und legte die Hand fest auf Lionels Unterarm, »eine schöne, sanfte Möse, die willig, geschmeidig und muskulös ist, finden Sie nicht mehr bei einer Weißen; all das ist völlig verschwunden.« Die 47 merkte, daß ich sie hartnäckig anstarrte; sie lächelte mir zu und schlug die Beine so übereinander, daß ich ihren leuchtend roten Strapshalter sehen konnte. Robert legte weiter seine Anschauungen dar. »Zu der Zeit, als sich die Weißen noch als überlegen betrachteten«, sagte er, »war der Rassismus nicht gefahrlich. Für die Siedler, die Missionare und die Lehrer in den konfessionslosen Grundschulen des 19. Jahrhunderts war der Neger ein großes, nicht sehr böses Tier mit unterhaltsamen Bräuchen, gleichsam ein etwas weiterentwickelter Affe. Schlimmstenfalls betrachtete man ihn als nützliches Arbeitstier, das bereits fähig war, komplexe Aufgaben zu erledigen; und bestenfalls als eine grobe Seele, die zwar ungeschliffen, durch die Erziehung jedoch fähig war, zu Gott zu finden - oder wenigstens zur abendländischen Vernunft. Auf jeden Fall sah man in ihm einen >niedriger stehenden

Weitere Kostenlose Bücher