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er eher unter Amerikanern geläufig ist; aber er hatte keine rechte Lust, die Gelegenheiten zu nutzen, die sich ihm boten und die im übrigen ziemlich selten waren, denn er arbeitete zwölf bis vierzehn Stunden am Tag, und in seiner Gehaltsklasse waren Frauen dünn gesät. Da war natürlich noch Valérie; aber ihm war nie in den Sinn gekommen, in ihr etwas anderes als eine Kollegin zu sehen. Es war übrigens erstaunlich, die Dinge unter diesem neuen Blickwinkel zu betrachten. Aber er wußte, daß es eine folgenlose Träumerei war: Er arbeitete schon seit fünf Jahren mit ihr zusammen, und in diesem Bereich entscheiden sich die Dinge sehr schnell - entweder es klappt sofort oder nie. Er schätzte Valérie sehr, ihr erstaunliches Organisationstalent, ihr zuverlässiges Gedächtnis; er wußte, daß er ohne sie nicht oder zumindest nicht so schnell Karriere gemacht hätte. Und heute würde er vielleicht einen entscheidenden Schritt weiterkommen. Er putzte sich die Zähne und rasierte sich sorgfältig, bevor er sich für einen eher klassischen Anzug entschied. Dann warf er einen Blick ins Schlafzimmer seiner Tochter: Sie war genauso
blond wie er und schlief fest in ihrem mit Küken bedruckten Schlafanzug.
Er ging zu Fuß zum Gymnase-Club an der Place de la République, der um sieben Uhr aufmachte; sie wohnten in der Rue du Faubourg-du-Temple, einem Viertel, das gerade in war und das er nicht mochte. Seine Verabredung im Firmensitz der Gruppe Aurore war erst um zehn. Ausnahmsweise würde Audrey einmal die Kinder anziehen und zur Schule fahren müssen. Er wußte, daß er an diesem Abend eine halbe Stunde lang Vorwürfe zu hören bekommen würde; während er zwischen leeren Kartons und Abfällen den feuchten Bürgersteig entlangging, wurde ihm klar, daß ihm das völlig egal war. Und zugleich wurde ihm zum erstenmal richtig klar, daß er die falsche Frau geheiratet hatte. Diese Art von Erkenntnis, das wußte er, geht der Scheidung im allgemeinen zwei oder drei Jahre voraus, denn eine solche Entscheidung fällt einem nie leicht.
Der große Schwarze am Empfang rief ihm ein nicht sehr überzeugendes »Alles klar, Chef?« zu. Er hielt ihm seine Mitgliedskarte hin, nickte und nahm ein Handtuch. Er hatte Audrey mit dreiundzwanzig kennengelernt. Zwei Jahre später hatten sie geheiratet, nicht zuletzt - aber nicht nur -, weil sie schwanger war. Sie war hübsch, elegant, geschmackvoll gekleidet - und konnte gelegentlich sehr sexy sein. Außerdem hatte sie etwas im Kopf. Die sich in Frankreich ausbreitende Tendenz zu Gerichtsverfahren nach amerikanischem Vorbild empfand sie nicht als Rückschritt, sondern im Gegenteil als einen weiteren Schritt zum Schutz der Bürger und der individuellen Freiheit. Sie war imstande, eine ganze Reihe von Argumenten zu diesem Thema vorzubringen, sie hatte gerade ein Praktikum in den USA hinter sich. Kurz gesagt, sie hatte ihn geblufft. Komisch, sagte er sich, daß er immer das Bedürfnis empfunden hatte, sich von Frauen intellektuell beeindrucken zu lassen.
Als erstes verbrachte er eine halbe Stunde auf dem Stepper mit unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen, dann schwamm
er zwanzigmal durch den Pool. In der Sauna, die um diese Zeit noch leer war, entspannte er sich allmählich und nutzte die Gelegenheit, um sich all das, was er über die Gruppe Aurore wußte, noch einmal vor Augen zu führen. Das Unternehmen Novotel-SIEH war Ende 1966 von Gérard Pélisson und Paul Dubrule - einem Absolventen der École Centrale und einem Autodidakten - gegründet worden, und zwar ausschließlich mit bei Angehörigen und Freunden geliehenem Kapital. Im August 1967 wurde das erste Novotel in Lilie eröffnet; es besaß bereits die Merkmale, die die Identität der Hotelkette ausmachen sollten: starke Standardisierung der Zimmer, Standort am Stadtrand - genauer gesagt, direkt an der Autobahn auf der Höhe der letzten Ausfahrt vor dem Ballungsgebiet - und ein für die damalige Zeit hohes Niveau an Komfort, Novotel war eine der ersten Hotelketten, die ihre Zimmer systematisch mit einem Bad ausstattete. Der Erfolg bei den Geschäftsreisenden war durchschlagend: 1972 besaß die Kette bereits fünfunddreißig Hotels. 1973 folgte die Gründung der Ibis-Hotels, 1975 die Übernahme der Mercure-Hôtels und 1981 die der Sofitel-Kette. Gleichzeitig unternahm die Gruppe eine vorsichtige Diversifizierung im Gaststättengewerbe - Aufkauf der Restaurantkette Courtepaille und der Gruppe Jacques Borel
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