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Titel: Plattform Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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zugleich eine gewisse Form von Solidarität unter Beweis stellen.«
        »Wieviel hat der Typ für seine Studie bekommen?« fragte Jean-Yves Valérie leise.
        » Hundertfünfzigtausend Franc. «
        »Das ist nicht zu fassen... Will sich dieser Idiot etwa damit bescheiden, uns einen Artikel aus dem Nouvel Obs vorzulesen?«
        Lindsay Lagarrigue fuhr mit der Paraphrasierung einiger Begriffe des Artikels fort, dann las er mit emphatischem Ton, der völlig deplaziert wirkte, eine dritte Passage vor: »Im Jahr 2000«, deklamierte er, »fühlt man sich als Nomade. Man fährt mit dem Zug oder unternimmt eine Kreuzfahrt, auf den Flüssen oder auf den Weltmeeren: Im Zeitalter der Schnelligkeit entdeckt man die Freuden der Langsamkeit wieder. Man verliert sich in der unendlichen Stille der Wüste; und dann stürzt man sich ohne Übergang in das brodelnde Leben der großen Hauptstädte. Aber immer mit der gleichen Leidenschaft...« Ethik, Selbstverwirklichung, Solidarität, Leidenschaft: Damit waren ihm zufolge die Schlüsselbegriffe benannt. In diesem neuen Kontext dürfe man sich nicht wundern, daß das System der Ferienclubs, das auf der Vereinheitlichung der Bedürfnisse und der Wünsche sowie auf einer egoistischen Abkapselung von der Außenwelt beruhte, immer wieder auf die gleichen Schwierigkeiten stieß. Die Zeit der Strandflitzer, wie Patrice Leconte die Club-Med-Freaks der 70er Jahre bezeichnet, sei endgültig vorbei: Der moderne Urlauber wolle eine authentische Erfahrung machen, etwas Neues entdecken und den Sinn für Gemeinsamkeit wiederfinden. Ganz allgemein gesagt, habe sich das Ford-Modell des Freizeit tourismus, das durch die berühmten »4 S « : Sea, Sand, Sun... and Sex charakterisiert war, überlebt. Wie die Arbeiten von Michky und Braun in überzeugender Weise gezeigt hätten, müsse sich die gesamte Tourismusbranche schon jetzt darauf einstellen, die Post-Ford-Ära einzuleiten und ihre Tätigkeit unter ein neues Vorzeichen zu setzen.
        Der Konsumverhaltenssoziologe hatte Erfahrung in seinem Metier, er hätte noch stundenlang weiterreden können. »Entschuldigen Sie...«, unterbrach ihn Jean-Yves in einem Ton, der eine leichte Gereiztheit verriet.
        »Ja?...» Der Konsumverhaltenssoziologe schenkte ihm ein charmantes Lächeln.
        »Ich glaube, daß jedem hier an diesem Tisch völlig klar ist, daß das System der Ferienclubs zur Zeit in eine Krise geraten ist. Wir erwarten daher von Ihnen nicht, daß Sie uns endlos die Einzelheiten des Problems schildern, sondern uns interessiert mehr, daß Sie uns wenigstens ansatzweise die eine oder andere Lösungsmöglichkeit andeuten. «
        Lindsay Lagarrigue stand mit offenem Mund da; mit einem Einwand dieser Art hatte er nun wirklich nicht gerechnet. »Ich glaube...«, stammelte er schließlich, »ich glaube, wenn man ein Problem lösen will, besteht der erste Schritt darin, es einzugrenzen und seine Ursachen zu erforschen.« Schon wieder so ein hohler Satz, dachte Jean-Yves wütend; er war nicht nur hohl, sondern im vorliegenden Fall auch noch falsch. Denn die Ursachen waren natürlich in einer allgemeinen gesellschaftlichen Tendenz zu suchen, die keiner von uns zu ändern vermochte. Man mußte sich ihr anpassen, das war alles. Aber wie konnte man sich ihr anpassen? Dazu hatte dieser Idiot offensichtlich nichts zu sagen.
        »Wenn ich mal grob zusammenfasse, was Sie uns gesagt haben«, fuhr Jean-Yves fort, »dann sind Sie der Ansicht, daß das System der Ferienclubs überholt ist. «
    »Nein, nein, überhaupt nicht...« Der Konsumverhaltens
    Soziologe verlor allmählich den Boden unter den Füßen. »Ich glaube... ich glaube nur, daß die Sache einiges Nachdenken erfordert.« »Und wofür bezahlen wir dich, du Arsch?« sagte JeanYves halblaut, ehe er sich an alle wandte: »Nun, wir werden versuchen, darüber nachzudenken. Monsieur Lagarrigue, ich danke Ihnen für Ihre Ausführungen; ich glaube, wir brauchen Sie heute nicht mehr. Ich schlage vor, wir machen zehn Minuten Kaffeepause.«

        Mißmutig steckte der Konsumverhaltenssoziologe seine Diagramme wieder in die Aktentasche. Als die Sitzung nach der Pause weiterging, holte Jean-Yves seine Notizen hervor und ergriff das Wort:
        »Zwischen 1993 und 1997 hat der Club Méditerranée, wie Sie wissen, die schlimmste Krise seit seinem Bestehen durchgemacht. Die Konkurrenten und Nachahmer waren immer zahlreicher geworden und hatten ganz einfach das Konzept

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