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Ich darf mich nicht damit zufriedengeben. Ich bin in ein System verstrickt, das mir nicht mehr allzuviel gibt und von dem ich im übrigen weiß, daß es unnötig ist; aber ich weiß nicht, wie ich ihm entkommen soll. Wir müßten uns mal die Zeit zum Nachdenken nehmen; aber ich weiß nicht, wann wir uns die Zeit dazu nehmen sollten. «
Was mich betraf, so arbeitete ich immer weniger; das heißt, ich tat nur soviel, wie eben nötig war. Ich war immer rechtzeitig zu Hause, um mir »Fragen an den Champion« anzusehen und etwas für das Abendessen einzukaufen; ich schlief jetzt jede Nacht bei Valérie. Erstaunlicherweise schien mir Marie-Jeanne meinen immer geringer werdenden Arbeitseifer nicht übelzunehmen. Im Gegensatz zu mir liebte sie eben ihren Job und war durchaus bereit, die anfallende Mehrarbeit zu übernehmen. Ich glaube, sie erwartete von mir vor allem, daß ich nett zu ihr war - und ich war in all diesen Wochen nett und friedlich. Das Korallenhalsband, das ich ihr aus Thailand mitgebracht hatte, gefiel ihr sehr, sie trug es jeden Tag. Wenn sie die Ausstellungsunterlagen vorbereitete, warf sie mir manchmal einen ungewöhnlichen, schwer zu deutenden Blick zu. An einem Morgen im Februar ich erinnere mich noch genau, es war mein Geburtstag - sagte sie offen zu mir: »Du hast dich verändert, Michel... Ich weiß nicht, aber du wirkst richtig glücklich.«
Sie hatte recht. Ich war glücklich, ich erinnere mich. Natürlich gibt es immer irgendwelchen Ärger, das eine oder andere unvermeidliche Problem, und natürlich den Verfall und den Tod. Und doch kann ich, wenn ich an diese wenigen Monate zurückdenke, mit Sicherheit sagen: Ich weiß, daß es das Glück
gibt.
Jean-Yves dagegen war nicht glücklich, das war offensichtlich. Ich erinnere mich, daß Valérie und ich eines Abends mit ihm in einem italienischen, genauer gesagt einem venezianischen Restaurant, auf jeden Fall einem ziemlich schicken Lokal, gegessen haben. Er wußte, daß wir bald nach Hause gehen würden, um miteinander zu vögeln, und daß wir voller Liebe vögelten. Ich wußte nicht recht, was ich zu ihm sagen sollte - was zu sagen war, war zu offensichtlich, zu klar. Ganz offensichtlich liebte seine Frau ihn nicht, sie hatte vermutlich nie jemanden geliebt; und sie würde nie jemanden lieben, auch das war klar. Er hatte kein Glück gehabt, das war alles. Die zwischenmenschlichen Beziehungen sind gar nicht so kompliziert, wie man so oft behauptet: Sie sind oft unlösbar, aber selten kompliziert. Jetzt mußte er sich natürlich scheiden lassen; das war nicht einfach, aber es mußte sein. Was hätte ich ihm schon anderes sagen sollen? Das Thema war bereits abgehakt, noch ehe wir mit den anti pasti fertig waren.
Anschließend sprachen sie über ihre berufliche Zukunft innerhalb der Gruppe Aurore: Sie hatten schon ein paar Ideen, ein paar ungefähre Vorstellungen, wie sie die Eldorador-Kette wieder sanieren konnten. Sie waren intelligent, kompetent und auf ihrem beruflichen Sektor anerkannt; aber sie durften keinen Fehler machen. Ein Mißerfolg in ihrer neuen Stellung würde noch nicht das Ende ihrer Laufbahn bedeuten: Jean-Yves war fünfunddreißig und Valérie achtundzwanzig, man würde ihnen eine zweite Chance geben. Aber innerhalb der Branche würde man den ersten Fehlschlag nicht vergessen, sie würden auf einem deutlich niedrigeren Niveau wieder anfangen müssen. In der Gesellschaft, in der wir lebten, stellten das Gehalt und, ganz allgemein gesagt, die finanziellen Vorteile den wesentlichen Anreiz zur Arbeit dar; das Prestige, das Ehrenvolle an einer Stellung spielten inzwischen eine viel geringere Rolle. Es gab jedoch ein ausgeklügeltes System der Umverteilung, das es erlaubte, die nutzlosen, die inkompetenten und die schädlichen Individuen am Leben zu erhalten - zu denen in gewisser Weise ich gehörte. Kurz gesagt, wir lebten in einem gemischtwirtschaftlichen System, das sich allmählich zu einer ausgeprägteren freien Marktwirtschaft entwickelte, die nach und nach die Schutzmaßnahmen gegen den Wucherzins - und ganz allgemein gegen das Geld - überwand, die in den Ländern mit ehemaliger katholischer Tradition noch existierten. Sie würden keinen wirklichen Nutzen aus dieser Entwicklung ziehen. Manche junge HECAbsolventen, die viel jünger waren als Jean-Yves - oder ihr Studium noch gar nicht abgeschlossen hatten -, stürzten sich von vornherein auf die Börsenspekulation, ohne überhaupt nach einer festen
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