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Enttäuschungen und Mißerfolge damit erlebt. «
Er verstummte; der letzte Schimmer des Tageslichts lag auf dem Yunque, einem Berg mit einem seltsam abgeflachten, tafelförmigen Gipfel, der Christoph Kolumbus schon stark beeindruckt hatte. Aus dem Speisesaal drang das klappernde Geräusch von Bestecken herüber. Was konnte die Menschen wirklich dazu bewegen, anstrengende, langweilige Arbeiten zu verrichten? Das schien mir die einzige politische Frage zu sein, die zu stellen sich lohnte. Der Bericht des alten Arbeiters gab eine erschreckende, unwiderrufliche Antwort darauf: Seiner Ansicht nach war es nur das Bedürfnis nach Geld. Der Revolution war es auf jeden Fall ganz offensichtlich nicht gelungen, den neuen Menschen zu schaffen, dessen Motivationen uneigennütziger waren. Wie alle Gesellschaften war die kubanische Gesellschaft nur ein umständliches Schwindelunternehmen, das mit dem Ziel aufgebaut worden war, einigen Menschen zu erlauben, der anstrengenden, langweiligen Arbeit zu entgehen. Doch der Schwindel war herausgekommen, niemand fiel mehr darauf herein, niemand war mehr von der Hoffnung erfüllt, eines Tages die Früchte der gemeinsamen Arbeit zu genießen. Das Ergebnis war, daß nichts mehr funktionierte, daß niemand mehr arbeitete oder etwas produzierte und daß die kubanische Gesell schaft unfähig geworden war, das Überleben ihrer Mitglieder zu gewährleisten.
Die anderen Teilnehmer des Ausflugs standen auf, gingen in Richtung Tische. Ich versuchte verzweifelt, ein paar optimistische Worte, irgendeine hoffnungsvolle Botschaft an den alten Mann zu richten; aber ich fand nichts. Wie er verbittert ahnte, würde Kuba bald wieder zu einem kapitalistischen Land werden, und von den revolutionären Hoffnungen, die ihn erfüllt hatten, würde nichts übrig bleiben - außer dem Gefühl des Scheiterns, der Nutzlosigkeit und der Schmach. Sein Beispiel würde weder geachtet noch nachgeahmt werden, auf die kommenden Generationen würde es sogar abstoßend wirken. Sein Kampf und die Arbeit seines ganzen Lebens waren einfach umsonst gewesen.
Während des Essens trank ich ziemlich viel, so daß ich schließlich völlig blau war ; Valérie blickte mich ein wenig beunruhigt an. Die Salsa-Tänzerinnen bereiteten sich auf ihre Show vor; sie trugen Faltenröcke und knappe bunte Oberteile. Wir setzten uns auf die Terrasse. Ich wußte in etwa, was ich zu JeanYves sagen wollte, doch war es der rechte Augenblick dafür? Ich spürte, daß er ein wenig ratlos, aber entspannt war. Ich bestellte noch einen letzten Cocktail und zündete mir eine Zigarre an, ehe ich mich ihm zuwandte.
»Willst du wirklich ein neues Konzept finden, das dir erlaubt, deine Club-Hotels zu retten?«
»Natürlich, deshalb bin ich ja hier. «
»Biete einen Club an, in dem die Leute vögeln können. Das ist es, was ihnen vor allem fehlt. Wenn sie während des Urlaubs nicht ihr kleines Abenteuer hatten, fahren sie enttäuscht nach Hause. Sie trauen sich nicht, es zuzugeben, vielleicht ist es ihnen selbst nicht einmal klar; aber beim nächsten Mal wechseln sie den Veranstalter.«
»Aber sie können doch vögeln, es wird sogar alles getan, um sie dazu anzuregen, das ist Prinzip der Clubs; warum sie es nicht
tun, weiß ich auch nicht. «
Ich fegte den Einwand mit einer Handbewegung vom Tisch. »Das weiß ich natürlich auch nicht, aber das ist nicht das Problem; es hat keinen Sinn, die Ursachen des Phänomens zu suchen, falls dieser Ausdruck überhaupt einen Sinn hat. Irgend etwas muß da doch faul sein, wenn es den Menschen aus den westlichen Ländern nicht mehr gelingt, miteinander zu schlafen. Vielleicht hängt das mit dem Narzißmus zusammen, mit dem Individualismus, mit dem Leistungskult oder was weiß ich. Auf jeden Fall steht fest, daß die Leute ab fünfundzwanzig oder dreißig Schwierigkeiten haben, neue Sexualpartner zu finden; dabei ist das Bedürfnis nach sexuellen Begegnungen immer noch da, das ist ein Bedürfnis, das nur sehr langsam nachläßt. Und so verbringen sie dreißig Jahre ihres Lebens, fast ihr ganzes Erwachsenendasein, in einem Zustand ständigen Mangels.«
Mitten im Alkoholrausch, kurz bevor man völlig abstumpft, erlebt man manchmal Augenblicke großer Hellsichtigkeit. Das Verkümmern der Sexualität in der westlichen Welt war natürlich ein weitverbreitetes soziologisches Phänomen, das man nicht einfach durch den einen oder anderen
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