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Titel: Plattform Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Kuba rasch dem sowjetischen Block annähern und ein Regime marxistischer Prägung einfuhren. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion führte der Versorgungsmangel dazu, daß das Regime heute dem Ende entgegensah. Valérie zog einen kurzen, seitlich geschlitzten Rock und ein knappes Oberteil aus schwarzer Spitze an; wir hatten noch Zeit, vor dem Abendessen einen Cocktail zu trinken.
        Alle Gäste hatten sich um den Swimmingpool versammelt und betrachteten den Sonnenuntergang über der Bucht. In der Nähe des Ufers lag das verrostete Wrack eines Frachters. Andere kleinere Schiffe lagen auf dem fast regungslosen Wasser; all das rief den Eindruck tiefer Verwahrlosung hervor. Aus den Straßen der tieferliegenden Stadt drang kein Laut herauf; ein paar Straßenlaternen leuchteten zögernd auf. An Jean-Yves' Tisch saßen ein Mann um die Sechzig mit hagerem, verbrauchtem Gesicht und elendem Aussehen und ein anderer, sehr viel jüngerer Mann, der höchstens dreißig war und in dem ich den Geschäftsführer des Hotels wiedererkannte. Ich hatte ihn mehrfach am Nachmittag beobachtet, wie er nervös zwischen den Tischen hin und her ging, von einer Stelle zur anderen lief, um zu überprüfen, ob alle Gäste bedient waren ; sein Gesicht schien von ständiger Besorgnis, die sich auf nichts Bestimmtes bezog, zermürbt zu sein. Als er uns ankommen sah, sprang er auf, holte zwei Stühle, winkte einen Kellner herbei und vergewisserte sich, daß dieser unverzüglich kam; dann stürzte er in die Küche. Der alte Mann dagegen warf einen ernüchterten Blick auf den Swimmingpool, auf die Paare, die an den Tischen saßen, und an scheinend auf die Welt ganz allgemein. »Das arme kubanische Volk ...«, sagte er nach langem Schweigen. »Die Leute haben nichts mehr zu verkaufen, bis auf ihren Körper.« Jean-Yves erklärte uns, daß er direkt nebenan wohne und der Vater des Hotelmanagers sei. Er hatte vor über vierzig Jahren an der Revolution teilgenommen und zu einem der ersten Bataillone gehört, die sich den aufständischen Truppen Castros angeschlossen hatten. Nach dem Krieg hatte er in der Nickelfabrik in Moa gearbeitet, zunächst als einfacher Arbeiter, dann als Vorarbeiter und schließlich - nachdem er noch die Universität besucht hatte - als Ingenieur. Sein Status als Held der Revolution hatte seinem Sohn erlaubt, einen guten Posten in der Tourismusindustrie zu bekommen.
        »Wir sind gescheitert«, sagte er mit dumpfer Stimme, »und wir haben unseren Mißerfolg verdient. Wir hatten hervorragende Männer an unserer Spitze, außergewöhnliche Männer, Idealisten, die das Wohl des Vaterlands über ihr eigenes Interesse stellten. Ich erinnere mich noch an den comandante Che Guevara, als er in unserer Stadt die Schokoladenfabrik eingeweiht hat; ich sehe noch sein mutiges, ehrliches Gesicht vor mir. Niemand hat je behaupten können, daß der comandante sich bereichert hat, daß er versucht hat, Vergünstigungen für sich oder für seine Familie zu bekommen. Das gleiche gilt für Camilo Cienfuegos und alle unsere Revolutionsführer, selbst für Fidel - Fidel liebt die Macht, das läßt sich nicht leugnen, er will auf alles ein wachsames Auge haben; aber er ist uneigennützig, er hat keine prächtigen Besitztümer und keine Konten in der Schweiz. Also, Che war da, hat die Fabrik eingeweiht und eine Rede gehalten, in der er das kubanische Volk anspornte, nach dem bewaffneten Kampf für die Unabhängigkeit die friedliche Schlacht der Produktion zu gewinnen; das war kurz bevor er in den Kongo ging. Wir hätten diese Schlacht ohne weiteres gewinnen können. Wir leben hier in einer sehr fruchtbaren Region, der Boden ist ergiebig und bekommt genug Wasser, alles wächst hier nach Belieben: Kaffee, Kakao, Zuckerrohr und exotische Früchte aller Art. Das Nickelerzvorkommen ist fast unerschöpflich. Wir hatten eine hochmoderne Fabrik, die mit Hilfe der Russen erbaut worden ist. Nach sechs Monaten ist die Produktion um die Hälfte zurückgegangen: Alle Arbeiter stahlen Schokolade, in Rohform oder in Tafeln, um sie unter ihren Angehörigen zu verteilen oder sie an Ausländer zu verkaufen. Und im ganzen Land war es in allen Fabriken dasselbe. Wenn die Arbeiter nichts fanden, was sie stehlen konnten, arbeiteten sie schlecht, waren faul, ständig krank und blieben beim geringsten Anlaß zu Hause. Jahrelang habe ich versucht, ihnen gut zuzureden und sie dazu zu bringen, sich im Interesse des Landes mehr Mühe zu geben, doch ich habe nur

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