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Platzhirsch: Ein Alpen-Krimi (German Edition)

Platzhirsch: Ein Alpen-Krimi (German Edition)

Titel: Platzhirsch: Ein Alpen-Krimi (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Förg
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»Rearkappali«, die Kapelle der Tränen, weil sich dort die Kinder von ihren Eltern verabschiedet hatten. Ein bitteres Kapitel der Geschichte Tirols, Vorarlbergs und der Ostschweiz.
    »Also, das Tagebuch ist von einem Mädchen, das ging wohl ohne Markt direkt auf ein Gut zum Arbeiten. Ich hab geheult, als ich es gelesen hab. Sie wurde vom Gutsherrn missbraucht, sie war schwanger, wurde verstoßen und ist in Innsbruck gelandet. Leider fehlen einige Blätter aus den Kriegsjahren. Also ich nehme mal an, dass die verloren gegangen sind. Es endet 1955.«
    In diesem Moment läutete das Telefon. Es war der Pressesprecher. »Sekunde …« Irmi hielt die Muschel zu. »Andrea, lass das ruhig mal hier. Ich schau mir das später an. Der tolle Tommy hält uns gerade etwas auf Trab.«
    »Hat er gestanden?«, wollte Andrea wissen.
    »Nein, aber Kathi denkt, das ist eine Frage der Zeit.«
    »Na ja, Kathi …«, sagte Andrea gedehnt.
    »Ich denk das auch«, meinte Irmi entschlossen und wusste doch, dass sie gar nicht so überzeugt war.
    Andrea legte einen rosafarbenen Pappordner auf ihren Schreibtisch. »Ich lass dir das mal da.«
    Irmi nickte und wandte sich wieder ihrem Telefonat zu, das am Ende Folgendes zum Ergebnis hatte: Sie würden morgen eine Pressekonferenz geben und auch die Bevölkerung um Mithilfe bitten. Vielleicht hatte jemand etwas gesehen. In Bayerns Wäldern strotzte es doch nur so von Nordic Walkern, Radlern, Gassigehern, Reitern oder schlichten Menschen, die den Spitzfindigkeiten der Freizeitindustrie trotzten und einfach nur spazieren gingen. Schade, dass noch keine Schwammerlsaison war, Schwammerlsucher fanden ja so manches: Eine Leiche hatten die Fans von Steinpilz und Co. in Irmis Karriere nämlich schon zutage gefördert. Am Hausberg war das gewesen.
    Irmi seufzte und öffnete den rosa Ordner. Begann eher unaufmerksam das erste Kapitel zu lesen und war mehr und mehr gefesselt. In seiner lakonischen Weise, in seiner Schlichtheit berührte sie das Geschriebene mehr als das, was Regina verfasst hatte.
    Sie beschloss, daheim weiterzulesen, und verließ ihr Büro. Ihr fiel ein, dass sie noch nichts eingekauft hatte, und ihre Lust, sich nun an einer Supermarktkasse anzustellen, hielt sich in Grenzen. Supermarktkassen waren ja weit mehr als nur eine Station auf dem langen Weg zum Abendessen.
    Dort erfuhr man etwas von der Vielfalt unserer Welt. Die junge Frau hatte eingeschweißten Käse und Schinken von der weißen Billigmarke aufs Band gelegt, dazu eine Großpackung Kekse und Fakecola – vermutlich eine Hartzlerin, die ihre Kinder schlecht ernährte. Der Mann da drüben hatte ein paar Zweihundertgrammschalen mit Kartoffel- und Fleischsalat und dazu Toast in den Einkaufskorb gelegt – Single, klar, wahrscheinlich Handwerker. Der Mann mit der Kochhose und weißem T-Shirt hatte Unmengen Schweineschnitzel aus der Plastikpackung im Wagen, Schnitzel, die preisreduziert waren, weil sie kurz vor dem Ablaufdatum standen. Hoffentlich hatte sie in dem Restaurant noch nie gegessen, dachte Irmi.
    Weil sie sich lieber gar nicht so genau ausmalen wollte, was die Leute wohl über sie und ihren Einkauf dachten, beschloss sie, aufs Shopping zu verzichten. Irgendwas würde sich zu Hause im Kühlschrank schon noch finden. Sie warf ihren Rucksack, in den sie den Ordner gerollt hatte, auf den Beifahrersitz. Gerade als sie starten wollte, klingelte ihr Handy. Er war dran.
    »Ich wäre jetzt in Pertisau. Wenn du gleich losfährst, passt es genau zum Abendessen. Ich hab hier einen sehr schönen steirischen Sauvignon blanc auf der Karte gesehen.«
    Irmi fühlte sich etwas überrollt. »Ich kann doch jetzt nicht so einfach, ich …«
    »Warum nicht? Es ist halb sieben. Es hat keinen Schneesturm, zumindest hier nicht. Die Straßen sind eisfrei. Du kannst morgen früh von mir aus in nachtschwarzer Dunkelheit aufbrechen. Oder noch heute Abend.«
    Ja, auch das kannte er. Ihre rasanten Aufbrüche, ohne Frühstück, meist noch im Dunkeln. Einsame Flure, Hotels, die man nur durch die Tiefgarage oder den Skikeller verlassen konnte, weil sonst noch alles zugesperrt war. Abschiede zwischen Tür und Angel, wo sie dann immer dieses schale Gefühl hatte und auch Trauer verspürte – aber auch eine gewisse Erleichterung.
    »Also gut, ich komm, aber ich muss wirklich sehr früh weg. Ich habe morgen eine wichtige Befragung. Morgen gesteht mein Mörder. Morgen …«
    »Morgen darfst du die Welt retten, Irmi. Morgen. Aber heute isst du mit mir zu Abend.

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