Platzhirsch: Ein Alpen-Krimi (German Edition)
groß gewesen, und je näher der Tag dann gerückt war, desto mulmiger war ihr geworden. Sie waren jedes Mal gefahren, und der erste Tag war Irmi immer schwergefallen. Von null auf hundert – das fiel ihr nicht leicht. Sie war Single mit gelegentlichem Männerkontakt. Sie lebte in einer Schwester-Bruder-WG. Sie schlief höchstens mit den Katern in einem Bett und fand es gewöhnungsbedürftig, einen Mann so nah an sich heranzulassen. Wahrscheinlich war sie längst eine schwer vermittelbare Alte geworden!
Und doch kam sie heiterer aus dem Stall. Aus dem Nichts schlichen die Kater heran und folgten ihr bis ins Bett.
8
Dezember 1936
Ich schreibe in der Eisenbahn, deshalb ist meine Schrift so wackelig. Am Nikolaustag war es nicht mehr zu verbergen. Der Herr Vater wusste es. Weil sie es ihm schon gesagt hatten, drunten im Tal. Getuschelt hatten sie, sich umgedreht, als ich kam, schnell schlossen sie die Haustüren. Als der Herr Vater es wusste, schlug er mich ins Gesicht, doch als er mir in den Bauch treten wollte, fuhr der Jakob dazwischen. Ich weiß bis heute nicht, von woher der Jakob gekommen war, aber ich weiß, dass das der Moment war, in dem der Jakob kein Bub mehr war. Zum zweiten Mal hatte er ein Leben gerettet.
Die Mutter weinte leise in ihre Stopfarbeit hinein, der Vater war wie festgefroren. Als wäre er zu einer Eissäule erstarrt wie die Säulen an den Felsen, wo im Sommer noch Wasser herausgesprudelt war. Die ganze Welt stand still, und in Jakobs Augen lag ein Glitzern, das ich noch nie gesehen hatte. Er blickte in eine neue Welt, und auch ich blickte durch eine Tür in ein gleißendes Licht. Dass ich schon wieder zu plärren begann, war dumm. Der Herr Vater hatte sich gefasst und brüllte: »Verschwind aus meinem Haus, du Plährkachl, du!« Dem Jakob drohte er mit der Faust, der Herr Vater hatte riesige Pratzn, und der Jakob sprang so leichtfüßig hinaus. Der Herr Vater nahm seinen Hut und sagte in meine Richtung: »Wenn ich wiederkomm, bist fort, du Schwabenhur.«
Es gab wenig zu packen, ich hatte neue Schuh und eine feine Lodenjacke, ich trug das Beutelchen von der Herrin am Herzen. Bevor ich ging, gab ich der Mutter ein wenig Geld, damit sie zum Bader ginge und sich die Zähne anschauen ließe. Sie blickte mich die ganze Zeit an, als sähe sie mich zum ersten Mal.
Ich war Abschiede immer gewöhnt gewesen, dieses Mal würde ich nicht wiederkommen, aber ich fühlte auf einmal gar nichts mehr. Keine Wut, keine Trauer. Die Tränen hatte ich alle schon vergossen. Hinter der Holzleg wartete der Jakob. »Komm«, sagte er nur. Er hatte mich am Arm gepackt und hatte so viel Kraft. Dabei war er doch wenig größer als ich und auch nur fünfzehn Jahre alt. Wir eilten talwärts, und in Stanzach hielt der Jakob eine Kutsche an. Sie fuhr nach Reutte. Ob das passe? Natürlich, ich wusste nicht, wohin ich wollte. »Fahr«, sagte der Jakob. Aber ich wollte doch den Jakob nicht verlassen, den einzigen Freund, den ich hatte. »I find di scho«, sagte der Jakob, und so kam ich nach Reutte.
Ach, was waren die Häuser groß! Und was für schöne Bemalungen es gab! Wie viel Geld mussten diese Menschen wohl haben, dass sie auf ihre Häuser Bilder malen ließen. Ich stand schließlich vor dem Schulhaus, aus dem auch viele Mädchen kamen, die so adrett gekleidet waren und eifrig plaudernd davoneilten. Eine sah mich lange an, und dann warf sie mir ein paar Münzen vor die Füße. Was wollte ich hier? Ich, die Anna aus Hinterhornbach, die arme Anna, die Anna, die ein Kind unter dem Herzen trug.
Es war ungewöhnlich warm, und ich lief ziellos über den Markt. Ein Fenster stellte Fotos aus von Menschen, die sehr schön aussahen. Speere warfen sie, und sie rannten, die Olympischen Spiele in Berlin waren das. Sie hatten überall Fahnen und Flaggen und Fähnchen in langen Reihen. Es war ein Kreuz darauf, natürlich erinnerte ich mich, was der Herr und der Herr Student über Hitler gesagt hatten. Der Herr … Plötzlich wurde mir ganz kalt, mein Magen krampfte sich zusammen. Ach, wie groß war die Welt, wie wenig wusste ich von ihr.
Vor dem Gasthof Schwarzer Adler hielt ich inne, es roch so gut, und zögernd trat ich ein. Ich war noch nie in einem Gasthof gewesen, ich setzte mich ganz hinten auf eine Bank. Ein Serviermädel in meinem Alter kam und fragte sehr freundlich, was ich wolle. Ich konnte gar nichts sagen! Sie lächelte nur und stellte wenig später einen Becher Milch und eine dicke Kartoffelsuppe mit Speck darin vor
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