Platzhirsch: Ein Alpen-Krimi (German Edition)
anfangs irritiert, aber nun konnte sie es nachempfinden: Reginas Neugierde war so stark. Sie selbst deckte ja auch auf, arbeitet sich hinein in ein Gespinst aus Lügen und Halbwahrheiten. Aber sie tat es, weil sie den Opfern Ruhe verschaffen wollte. Weil es eben ihr Beruf war. Regina tat es auch um der Geschichte selbst wegen.
Irmis Gedanken wurden durch das Hauptgericht unterbrochen, ein Steak vom Ochsen mit Speckbohnen. Sie plauderten eine ganze Weile darüber, wie groß der Unterschied in der Qualität von Fleisch war, bis Irmi schließlich sagte: »Du darfst das gerne lesen. Vielleicht entdeckst du etwas. Auf mich wirkt diese ganze Schwabengeherei sowieso ungeheuerlich. Wie kam es überhaupt dazu?«
»Weißt du denn, woher das Mädchen stammte?«
»Vom Lechtal.«
»Oh! Dann ist das sogar noch ein Sonderfall. Die Situation war nicht in allen Alpentälern gleich schlecht. Entlang der Handelsstraße, der Salzstraße, gab es einige Verdienstmöglichkeiten. Aber 1824 öffnete die Arlbergstraße, später kam die Eisenbahn, und viele Gebiete gerieten ins Abseits. Im Außerfern herrschte besondere Armut: Nennen wir das mal hausgemachten Wahnsinn gepaart mit der Kargheit des Bodens, verschlimmert durch Missernten. Hausgemacht daran ist, dass die gängige Erbteilung die Höfe komplett zersplitterte. Die Bauern waren größtenteils Landarbeiter auf gepachtetem Boden, auch in guten Jahren reichte der karge Ertrag höchstens ein Vierteljahr. 1780 kam zwar die Kartoffel im Außerfern an, aber das verbesserte die Ernährungslage auch nicht besonders. Und dann brach im heutigen Indonesien 1815 ein Vulkan aus …« Er unterbrach sich. »Jetzt hab ich vergessen, wie der hieß.«
»Du weißt mal was nicht?« Eigentlich sollte das zärtlich klingen, aber so was misslang Irmi immer.
»Ich muss das nachher unbedingt googeln«, sagte er und fuhr fort: »Jedenfalls kostete das nicht nur rund zehntausend Menschen in Indonesien das Leben, sondern der Vulkan schleuderte auch unendlich viel vulkanisches Material in die Luft. Der Himmel verfinsterte sich weltweit und führte in Europa zum grausigen ›Jahr ohne Sommer‹, es folgten die noch grausigeren Hungersnöte 1816 und 1817. Ich weiß, dass man sogar Kartoffelwächter anstellte, um die Felder zu bewachen.«
»Und da war man froh, wenn man die Kinder loshatte?« Irmi aß ein Stück Steak, das wirklich perfekt ›medium‹ war. Sie saßen hier und aßen Fleisch, ohne weiter darüber nachzudenken. Bestellten einfach. Wie anders war es vor noch gar nicht so langer Zeit gewesen. Auch in ihrer Heimat.
»Sicher. Jedes Maul, und war es auch noch so klein, wollte gestopft werden. Zu Hause wären die Kinder verhungert, also schickte man sie auf diese Wanderung. Mit dem Lohn der Kinder konnte man wieder ein paar Schulden und Steuern begleichen, bezahlt wurden die Kinder für einen Sommer. Es gab meist nur ein paar Gulden und neue Kleidung. Aber was glaubst du, wie unendlich viel das für die armen Bauern war!«
»Und gab es diese Sklavenmärkte wirklich?«
»Ja, tatsächlich. Die Kinder wurden wie auf Viehmärkten gehandelt. In Wangen, Ravensburg, Bad Waldsee, Tettnang und Friedrichshafen in Württemberg, aber auch in Überlingen und in Kempten. Ravensburg war aber der größte Markt, wo man Kinder für die Feldarbeit, zum Heumachen, zum Viehhüten oder auch Mädchen für die Küche kaufen konnte. Das fand damals niemand seltsam.«
»Das Mädchen im Tagebuch schien aber eine feste Stelle zu haben.«
»Ja, das gab es auch. Vor allem Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts hatten die Kinder jedes Jahr dieselben Arbeitgeber, die späten Schwabenkinder durften vielleicht sogar mit der Eisenbahn fahren und wurden mit Kutschen abgeholt. In Oberschwaben waren durch ein ganz anderes Erbrecht große Betriebe, ja riesige Güter entstanden, und es gab einen erhöhten Bedarf an billigen Arbeitskräften. Nicht zu vergessen der Käse!«
Irmis Blick fiel aufs Dessertbüfett, wo eine appetitliche Käseplatte stand. Den Käse würde sie bestimmt nicht vergessen. Sie lachte. »Der da drüben?«
Wie schade, dass er nicht Lehrer oder Dozent geworden war. Er konnte so mitreißend erzählen. Mit ihm als Lehrer wäre Geschichte sicher kein so dröges Fach geworden.
»Nein, ich spreche vom Allgäu, wo ab etwa 1827 Schweizer Käse produziert wurde. Du kennst das heute mit den Allgäuer Einzelhöfen? Was so hübsch aussieht, ist der Vereinödungsprozess, im Zuge dessen man die geschlossenen Dörfer und
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