Platzhirsch: Ein Alpen-Krimi (German Edition)
Zeinisjoch?«
Er lachte. »Natürlich. Du hattest ein blau kariertes Hemd an, und wir mussten die Sohle deines Bergschuhs am Abend kleben, weil die Frau Kommissarin sich weigerte, neue Schuhe zu kaufen. Weil der alte doch so gut passt. Hast du den immer noch?«
»Ich hab neue Schuhe!«
»Aber die alten aufgehoben?«
»Klar!«
»Die gehören ja auch ins Museum.«
»Zeinisjoch war das Stichwort!«
»Natürlich erinnere ich mich. Wir waren an dieser Kapelle, wo die armen Würmchen auf eine lange, ungewisse Reise gingen.«
Die Vorspeise kam, eine köstlich cremige Knoblauchsuppe – na, da würde der tolle Tommy vielleicht schon deshalb gestehen, weil er ihren Geruch nicht mehr ertragen würde. Das war eine gute Taktik, warum hatte sie die nicht schon öfter angewendet?
Irmi lächelte ihn an. Allmählich war sie wieder angekommen. »Ja, diese Schwabenkinder. Die Kapelle hieß im Volksmund ›Rearkappali‹, und um so ein Schwabenkind geht es in dem Tagebuch.«
»Du willst sagen, du hast das Tagebuch eines Schwabenkindes gefunden? Das wäre ein hochinteressantes und wertvolles Zeitdokument.« Er betrachtete sie aufmerksam, ja gespannt.
Irmi sah ihn überrascht an. Er war ganz aufgeregt. Gut, er war promovierter Historiker, wenn er auch längst für eine Computerfirma weltweit tätig war und viel mit touristischen Projekten betraut war, was ihn eben immer auch mal in den Alpenraum führte. Eine typische geisteswissenschaftliche Akademikerkarriere hatte er gemacht: vom Historiker zum Taxifahrer und über ein Gammeljahr in Australien hin zum realistischen Broterwerb. Aber Geschichte war sein Steckenpferd, drum war er ja auch so ein wandelndes Lexikon.
»Aber solche Tagebücher wird es doch mehrere geben«, sagte Irmi.
»Sei dir da nicht zu sicher. Das Bildungsniveau dieser Kinder war katastrophal. Ab 1836 gab es in Württemberg die allgemeine Schulpflicht, die aber nur für die eigenen Kinder galt. Die konnten nicht mehr arbeiten, also brauchte man ausländische Kinder, für die diese Schulpflicht eben nicht galt. Das war perfide: Die eigenen Kinder lernten was, die Schwabenkinder schufteten sich halb zu Tode. Die politisch immer wieder geforderte Ausdehnung der Schulpflicht auf die ausländischen Kinder wurde bis 1921 von einer oberschwäbischen Bauernlobby verhindert.« Er nickte wie zur Beteuerung und schenkte Wein nach. »Stell dir vor, diese Gebirgskinder waren ganze Sommer lang weg, und im Winter wurde auch nicht viel gelernt, oft schafften sie es gar nicht bis in die Schule wegen des Schnees. Der Unterricht war immer eng mit der Religion verbunden, sodass es vorkam, dass Schüler trotz guter Leistungen wegen ungenügender Kenntnis der Religion nicht in die nächste Klasse aufsteigen durften. Der Katechismus war das Wichtigste, in eine Mittelschule aufzusteigen war schier unmöglich. Während des Ersten Weltkriegs war der Lehrermangel gewaltig, die Klassen hoffnungslos überfüllt, keine Spur von geordnetem Unterricht. Und nach der Machtübernahme begann eine Säuberungswelle im Schuldienst. Man wollte Lehrer, die überzeugte Nationalsozialisten waren. Die Leidtragenden waren immer die Kinder, die nie frei von Dogmen lernen durften.«
»Aber es gab doch auch in den bäuerlichen Gegenden Schulen«, warf Irmi ein.
»Ja, sicher. In Österreich führte Maria Theresia zwar schon 1774 eine Unterrichtspflicht ein, aber die ließ sich leicht umgehen. Auch diese Schulpflicht für ausländische Kinder ab 1921 wurde häufig nicht eingehalten. Oder es kamen ältere Kinder, die die Pflichtschulzeit schon hinter sich hatten.«
»Meine Geschichte beginnt 1936.«
»Was? Und da ging die Schreiberin immer noch nach Schwaben?« Er starrte sie an.
»Ich hab, wie gesagt, noch nicht alles gelesen, aber sie war wohl schon sechzehn.«
»Also wenn das dein Fall zulässt, würde ich das sehr gerne lesen. Das ist eine echte Entdeckung!«
Irmi überlegte kurz. Warum nicht? Warum sollte ein Historiker in ihrem Bekanntenkreis das nicht zu lesen bekommen? Quasi als Fachmann? Als sie in sein aufmerksam gespanntes Gesicht blickte, in diese forschende Neugier, verstand sie zum ersten Mal etwas von dem, was Regina von Braun angetrieben hatte. Die hatte das auch gehabt, diese Leidenschaft für das Stöbern in menschlichen Geschichten. Es gab solche Menschen, und das war gut, denn sie konnten Zeitzeugnisse bewahren. Auf einmal verstand Irmi auch, warum diese Regina quasi zwei Bücher gleichzeitig hatte schreiben wollen. Das hatte Irmi
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