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Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)

Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)

Titel: Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Etgar Keret
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einen Mucks machen könnte.
    »Es wird schon gutgehen«, sagte die Offizierin, die offenbar die Denkfalten auf Orits Stirn bemerkt hatte, »wir werden die ganze Zeit bei Ihnen sein.«

    Zum Rabbinat war Assi als Simions Zeuge gekommen, und während der ganzen Zeremonie versuchte er nur, Orit zum Lachen zu bringen und schnitt ihr Grimassen. Simion selbst sah viel besser aus als in den Geschichten über ihn. Kein wahnsinnig toller Typ, aber lang nicht so hässlich, wie Assi ihn beschrieben hatte, und auch kein solcher Idiot. Er war sehr eigenartig, aber nicht dumm, und nach dem Rabbinat lud Assi sie und ihn zu einem Falafel ein. An diesem ganzen Tag hatten Simion und Orit kein Wort gewechselt außer »Schalom« und dem, was bei der Zeremonie gesagt werden musste, und auch beim Falafel waren sie bemüht, einander nicht anzuschauen. Assi fand das lustig. »Schau doch mal, wie hübsch deine Frau ist«, er legte eine Hand auf Simions Schulter, »schau, welch eine Blume.« Simion hielt seine Augen auf das tropfende Pita in seiner Hand geheftet. »Was soll nur werden mir dir, o Simion?«, peinigte Assi ihn weiter. »Du weißt, dass du jetzt verpflichtet bist, sie zu küssen. Sonst ist die Ehe, nach jüdischem Religionsgesetz, nicht gültig.« Bis heute wusste sie nicht wirklich, ob Simion das geglaubt hatte. Assi sagte nachher zu ihr, klar habe er das nicht, er habe einfach bloß die Gelegenheit ausgenutzt, doch Orit war sich da weniger sicher. Wie auch immer, plötzlich beugte er sich in ihre Richtung und versuchte, ihr einen Kuss zu geben. Orit machte einen Satz rückwärts, und seine Lippen kamen nicht so weit, sie zu berühren, doch der Geruch, der aus seinem Mund kam, traf sie und vermischte sich mit dem Bratenfettdunst des Falafels und diesem modrigen Mief vom Rabbinat, der in ihrem Haar hing. Sie ging noch ein paar Schritte weiter weg und kotzte in einen Pflanzenkübel, und als sie ihre Augen von dem Kübel hob, trafen sie auf Simions. Simion erstarrte einen Moment, und dann begann er einfach davonzurennen. Flüchtete. Assi versuchte ihm nachzurufen, doch er blieb nicht stehen. Und das war das letzte Mal, dass sie ihn gesehen hatte. Bis heute.

    Auf der Fahrt dorthin hatte sie Angst gehabt, sie würde ihn nicht identifizieren können. Sie hatte ihn schließlich nur ein einziges Mal gesehen, vor zwei Jahren, und damals lebendig. Doch jetzt wusste sie sofort, dass er es war. Ein grünes Laken bedeckte seinen ganzen Körper außer dem Gesicht, das bis auf ein kleines Loch in der Wange, nicht größer als eine Schekelmünze, völlig unversehrt war. Und der Verwesungsgeruch war genau wie der seines Atems an ihrer Wange vor zwei Jahren. Sie hatte sich oft an diesen Augenblick erinnert. Noch am Falafelstand hatte Assi zu ihr gesagt, es sei ja nicht ihre Schuld, dass dieser Simion aus dem Mund stinke, aber sie hatte die ganze Zeit das Gefühl gehabt, irgendwie sei es doch ihre. Und auch heute, als sie an ihre Tür geklopft hatten, hatte sie daran denken müssen. Es war ja nicht so, dass sie eine Million Mal oder so was geheiratet hätte.
    »Möchten Sie, dass wir Sie einen Moment mit Ihrem Mann alleinlassen?«, fragte die Offizierin. Orit machte eine verneinende Kopfbewegung.
    »Sie können ruhig weinen«, sagte die Offizierin. »Wirklich. Es hat keinen Sinn, es drin zu behalten.«

Mit geschlossenen Augen
    Ich kenne einen Typen, der phantasiert die ganze Zeit. Was heißt hier, die ganze Zeit – der Mensch geht auf der Straße mit geschlossenen Augen. Eines Tages entdecke ich ihn, wie ich auf dem Vordersitz in seinem Auto sitze, nach links schaue und ihn neben mir sehe, mit beiden Händen am Lenkrad und geschlossenen Augen. Fährt im wahrsten Sinne des Wortes echt mit geschlossenen Augen.
    »Chagi«, sage ich zu ihm, »das ist unpassend. Chagi, mach die Augen auf.« Aber er fährt weiter, als sei überhaupt nichts.
    »Weißt du, wo ich jetzt bin?«, sagt er zu mir. »Weißt du, wo ich jetzt bin?«
    »Mach die Augen auf«, beharre ich, »jetzt mach sie auf. Na los, das stresst mich.« Nur durch ein Wunder hat das nicht mit einem Unfall geendet.
    Der Mensch phantasiert von Häusern anderer Leute, phantasiert, dass sie sein Zuhause seien. Von Autos und Arbeiten. Von seiner Frau. Stellt sich andere Frauen vor, dass sie seine Frau wären. Und auch von Kindern, Kindern, die er auf der Straße oder im Park getroffen hat, Kindern, die er im Fernsehen in irgendeiner Sendung gesehen hat. Stellt sie sich anstelle seiner Kinder vor.

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