Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)
war. Er liebte sie und kannte sie so gut, dass er sie an jedem einzelnen Körperteil hätte identifizieren können, und der Fuß schien ihm von allen Körperteilen irgendwie am fernsten, neutralsten und fremdesten.
Er betrachtete den Fuß noch ein paar Sekunden, auch nachdem er bereits die fast unmerklich gewellte Struktur ihrer Zehennägel erkannt hatte, den pummeligen und leicht krummen großen Zeh, den perfekten Bogen ihrer Sohle. Vielleicht war es ein Fehler, dachte er bei sich, während er noch auf die kleine Fußsohle blickte (Größe 35), vielleicht war es ein Fehler gewesen, den Fuß auszusuchen. Das Gesicht eines Toten ähnelt dem eines schlafenden Menschen, doch der Fuß eines Toten – er erlaubt keinerlei Hinwegtäuschen über den Tod, der sich unter jedem einzelnen Zehennagel verbirgt.
»Das ist sie«, sagte er schließlich zu dem Pathologen und verließ den Raum.
Zum Begräbnis der Frau kam auch der Pathologe. Nicht nur er, auch der Bürgermeister von Jerusalem war vertreten, ebenso wie der Minister für innere Sicherheit. Beide versprachen dem Ehemann höchstpersönlich, unter zahlreichen Wiederholungen seines Vornamens und des der Verstorbenen, ihren grausamen Tod zu rächen. Sie schilderten auf dramatische und plastische Weise, wie sie die Hintermänner des Mörders finden und bestrafen würden (an dem Selbstmordattentäter selbst konnte man sich schlecht noch rächen). Der Ehemann schaute ziemlich betreten drein bei diesen Versprechungen. Es schien, als interessierten sie ihn nicht wirklich und als bemühte er sich, das nur aus Rücksicht auf die Gefühle all dieser erregten öffentlichen Persönlichkeiten zu kaschieren, die in ihrer Einfalt wirklich glaubten, ihre zornigen Reden würden ihm irgendeinen Trost spenden.
Beim Begräbnis war es das zweite Mal, dass der Pathologe daran dachte, dem Mann zu erzählen, dass seine Frau ohnehin an der Schwelle des Todes gestanden hatte, um so vielleicht die Atmosphäre der Rachsucht und Peinlichkeit, die das Ereignis überlagerte, ein wenig zu entspannen, doch auch diesmal schwieg er. Auf dem Rückweg versuchte er sich an ein paar philosophischen Gedanken über alles, was passiert war. Was ist Krebs anderes, dachte er, als ein göttlicher Anschlag mit terroristischem Hintergrund? Was macht Gott denn anderes, als uns zu terrorisieren aus Protest gegen … etwas, etwas so Erhabenes und Transzendentales, dass zu erfassen wir gar nicht in der Lage sind? Und ähnlich wie seine Arbeit im pathologischen Institut war auch dieser Gedanke stringent und präzise, half jedoch nicht wirklich irgendwas.
In der Nacht nach dem Begräbnis hatte der Ehemann einen traurigen Traum, in dem der tote Fuß sein Gesicht streichelte – ein Traum, der ihn aufgewühlt erwachen ließ. Er ging ganz leise in die Küche, um die Kinder nicht zu wecken, und machte sich ein Glas Tee, ohne das Licht einzuschalten. Auch nachdem er den kochend heißen Tee ausgetrunken hatte, blieb er in der dunklen Küche sitzen. Er strengte sich an, an etwas zu denken, das er machen wollte. Etwas, das ihn froh machen würde. Irgendwas. Sogar Dinge, die er sich nicht wirklich erlauben konnte wegen der Kinder oder des Geldes wegen. Aber es wollte ihm nichts dergleichen einfallen. Er hatte das Gefühl, voll von einer dichten, sauren Masse zu sein, die seine Brust verstopfte, und das war keine Trauer. Es war etwas viel Schwerwiegenderes als Trauer. Nach all den Jahren, die er hinter sich hatte, erschien ihm das Leben jetzt nur noch wie eine Falle. Ein Labyrinth. Oder nicht mal ein Labyrinth, einfach bloß ein Raum, der ganz und gar aus Wänden bestand, ohne Tür. Es muss was geben, beharrte er stur, etwas, von dem ich gern hätte, dass es passiert, auch wenn es mir im Leben nicht gelingen sollte. Irgendetwas.
Es gibt Menschen, die bringen sich um, nachdem jemand, der ihnen nahesteht, gegangen ist, es gibt solche, die wenden sich der Religion zu, und es gibt andere, die sitzen die ganze Nacht in der Küche und warten nicht einmal darauf, dass die Sonne aufgeht. Das Licht von draußen begann in die Wohnung einzusickern, bald würden die Kleinen wach werden. Er versuchte sich die Berührung des Fußes aus dem Traum wieder ins Gedächtnis zu rufen, doch wie das mit Träumen immer so ist, gelang es ihm nur, sie zu rekonstruieren, aber nicht wirklich zu erleben.
Wenn sie an dem Tag bloß nicht zur Arbeit gegangen wäre, dachte er, während er sich dazu zwang aufzustehen, wenn ich ihr doch bloß vorgeschlagen
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