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Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)

Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)

Titel: Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Etgar Keret
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ich bin, Sie Haufen Nichts? Warum ich heute hierhergekommen bin? Wissen Sie überhaupt irgendwas über die Existenz? Über die Welt? Etwas über die Nummer des Autobusses hinaus, der Sie jeden Tag herbringt und wieder zurück, und die Namen der Nachbarn in der verwahrlosten, finsteren Bruchbude, in der Sie wohnen?«
    »Mein Herr …«, versuchte der Jackettträger den Schwall mit pragmatischer Höflichkeit zu stoppen, doch es war schon zu spät.
    »Ich schaue Sie an«, redete Gerschon weiter, »und innerhalb einer Sekunde habe ich Ihre komplette Lebensgeschichte intus. Ihnen steht alles hier, auf ihrer fliehenden Stirn geschrieben. Alles. Der schönste Tag in Ihrem Leben wird sein, wenn die Basketballmannschaft, deren Fan Sie sind, Champion wird. Der schrecklichste Tag in Ihrem Leben wird sein, wenn Ihre fette Frau an einer bösartigen Krankheit stirbt, deren Behandlung eure Kasse nicht abdeckt. Und alles zwischen diesen beiden Augenblicken wird wie so ein schlaffer Furz entweichen, so dass es Ihnen am Ende Ihres Lebens, wenn Sie versuchen zurückzuschauen, nicht mal gelingen wird, sich auch nur an so viel wie den Geruch zu erinnern …«
    Die Faust kam so blitzschnell, dass es Gerschon nicht einmal schaffte zu spüren, wie sie sein Gesicht traf. Als er erwachte, fand er sich auf dem geschmackvoll gestalteten Marmorboden der Lobby wieder. Was ihn weckte, war eine Serie von Rippentritten und eine tiefe, angenehme Stimme, die durch den Raum der Lobby hallte und ihn irgendwie an einen spätnächtlichen Radiomoderator erinnerte. »Lass gut sein«, wiederholte die Stimme, »lass ihn, Chassus, das ist er nicht wert.«
    Auf dem Boden, wie er jetzt wahrnahm, war der Buchstabe »G« mit kleinen vergoldeten Steinen eingelegt – der Anfangsbuchstabe seines Vornamens. Man hätte das alles als Zufallskoinzidenz behandeln können, doch Gerschon zog es vor sich vorzustellen, wie die Bauarbeiter, die diesen Wolkenkratzer errichtet hatten, gewusst hatten, dass er eines Tages hierherkommen würde, und zu seinen Ehren irgendeine Geste machen wollten, damit er sich nicht so unsäglich einsam und unerwünscht in dieser bösartigen Stadt fühlen würde. Die Tritte hörten nicht auf, und sie fühlten sich dermaßen echt an, wirklich wie im Traum seiner Frau. Vielleicht war dieses Baby, das ihr Vater in dem Kinderwagen zurückgelassen hatte, sie selbst gewesen. Möglicherweise. Schließlich war ihr Vater kein kleiner Scheißkerl. Vielleicht war ihr der Traum deshalb so wichtig gewesen. Und wenn ihr eine Umarmung im Traum gefehlt hatte, hätte er sie doch eigentlich umarmen können. Einfach eine Sekunde Pause einlegen in seinem bescheuerten Kampf mit dem widerborstigen Koffer, der jetzt bestimmt die Knöchel von Fremden auf dem Förderband eines Zwergflughafens an der Westküste beschnüffelte, hätte sie ganz fest in seinen Armen halten können und zu ihr sagen: »Ich bin da, Süße. Ich mag vielleicht heute fliegen, aber ich bin bald wieder zurück.«
    Der Schwarze im grauen Jackett half ihm aufzustehen. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte er und hielt ihm die James-Bond-Tasche und ein Papiertaschentuch hin. »Ihnen läuft ein bisschen Blut runter.« Er sprach das Wort »bisschen« mit so leiser, zart gehauchter Stimme aus, als versuchte er, es auf Tröpfchengröße zu verkleinern. Der Schnurrbärtige saß auf einem Stuhl neben dem Aufzug und weinte. »Ich entschuldige mich in seinem Namen«, sagte der Schwarze, »er macht gerade eine schwere Zeit durch.« Das Wort »schwer« verstärkte er allerdings. Schrie es beinahe.
    »Entschuldige dich nicht«, stieß der Schnurrbärtige unter Tränen hervor, »bitte diesen Dreckskerl bloß nicht um Entschuldigung.« Der Schwarze wechselte dazu über, mit den Schultern zu zucken und hilflos zu schnauben.
    »Seine Mutter …«, versuchte er Gerschon zuzuflüstern.
    »Sag’s ihm ja nicht«, heulte der Schnurrbärtige auf, »dass du ihm ja kein Wort von meine Mutter sagst, hörst du? Sonst kriegst du gleich auch noch eine satte Portion ab.«

Rorschach
    »›Halt, Polizei‹«, fuhr Gerschon fort, »ist vielleicht das erste Schachtelspiel in der Geschichte, das dem Kind, das damit spielt, keine vorgeschriebenen Lösungen aufoktroyiert, sondern den Impetus gibt, eine eigene Lösung vorzuschlagen. Man kann das Spiel als eine Art Rorschachpfad sehen, das einen, während man auf dem Weg zum ersehnten Ziel, dem Sieg, vorrückt, dazu herausfordert, die Phantasie in Aktion zu setzen.«
    »Ein

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