Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)
hätte, sie mit dem Auto hinzubringen. Dann wäre sie jetzt noch am Leben, würde hier mit mir in der Küche sitzen.
Der Goldfisch
Jonathan kam auf eine glänzende Idee für ein Dokumentarfilmprojekt. Er würde bei Leuten an der Tür klopfen, nur er, ohne sein Team, mit einer kleiner Kamera in der Hand, und sie fragen: »Wenn ihr einen sprechenden Goldfisch finden würdet und er euch drei Wünsche gewähren würde, worum würdet ihr bitten?« Die Leute würden antworten, und er würde kurze Ausschnitte aus den interessantesten Antworten zusammenschneiden. Vor jedem Set einer solchen Antwort wäre der Mensch zu sehen, wie er bewegungslos in seiner Wohnungstür steht, und über diesem Eingangsmotiv würden die Schriftzeilen mit seinem Namen, Familienstand und monatlichem Einkommen auftauchen, vielleicht sogar, für welche Partei er bei den Wahlen gestimmt hatte. Und zusammen mit den Wünschen würde das die ganze Sache zu einem gesellschaftlichen Projekt machen, das etwas über die Kluft zwischen den Träumen von uns allen und der tatsächlichen Situation aussagte, in der sich unsere Gesellschaft befindet.
Es war eine geniale und billige Idee. Man brauchte praktisch nichts dafür, nur Jonathan und seine Kamera. Und Jonathan war sich sicher, dass er sie, wenn er angefangen hätte zu filmen und zu redigieren, mit Leichtigkeit an Kanal 8 oder an YES-Doku verkaufen könnte. Falls nicht als Film, dann als solche Clips, in denen man jedes Mal einen Menschen und seine Wünsche sieht. Mit ein wenig Glück könnte er vielleicht sogar irgendeine Bank oder eine Mobiltelefongesellschaft dafür interessieren und das Ganze am Ende eventuell in den Schutzmantel dieses Unternehmens verpacken. Etwas in dem Stil: »Verschiedene Träume, verschiedene Wünsche, eine Bank. Bank blablabla – die Bank, die mit Ihnen träumt«, oder »Die Bank, die Wünsche wahrmacht«. So was Ähnliches irgendwie.
Jonathan beschloss, die Arbeit daran ohne irgendwelche Vorbereitungen aufzunehmen. Einfach loszuziehen und bei den Leuten an die Tür zu klopfen. Im ersten Viertel, in dem er filmte, wünschten sich die meisten von denen, die einverstanden waren mitzumachen, ziemlich vorhersehbare Dinge: Gesundheit, Liebe, eine größere Wohnung. Aber es gab auch bewegende Momente. Da war eine unfruchtbare Frau, die ein Kind wollte, ein Holocaustüberlebender mit einer Nummer auf dem Arm, der sich wünschte, dass alle noch lebenden Nazis für ihre Verbrechen bezahlten, eine alte Tunte, die sich wünschte, eine Frau zu sein. Und das alles allein in einem Viertel im Herzen Tel Avivs. Wer weiß, was sich die Menschen in den Reißbrettstädtchen, in Orten an der Konfrontationslinie, in den Siedlungen, arabischen Dörfern und Eingliederungszentren erst wünschen würden. Jonathan wusste, dass es bei einem solchen Projekt äußerst wichtig war, dass auch Arbeitslose, Religiöse, Araber und Äthiopier dabei waren. Er begann, seine folgenden Aufnahmetage danach zu planen: Jafo, Dimona, Aschdod, Sderot, Taijba. Er betrachtete die Namen der Orte, die er zu Papier gebracht hatte. Wenn es ihm gelänge, einen Araber zu filmen, der als einen seiner Wünsche Frieden nennen würde, wäre das ein echter Schuss ins Schwarze.
Sergej Gorelik liebte es gar nicht, wenn Leute an seine Tür klopften, und noch weniger mochte er, dass die Leute, die bei ihm an die Tür klopften, Fragen stellten. In Russland, als er noch jung war, war das oft passiert. Die Leute vom KGB kamen ständig, um bei ihnen an die Tür zu klopfen, da sein Vater Zionist und ihm die Ausreise nach Israel verweigert worden war. Als Sergej nach Jafo zog, sagten manche in der Familie zu ihm, was willst du denn an einem solchen Ort? Dort sind doch alles bloß Junkies und Araber. Aber das ausnehmend Gute an Junkies und Arabern war, dass sie nicht kamen, um bei Sergej an die Tür zu klopfen. Und so konnte Sergej aufstehen, wenn es ringsherum noch finster war, mit seinem Boot aufs Meer hinausfahren, ein bisschen fischen und nach Hause zurückkehren. Alles ganz allein. In Ruhe. So wie es sein musste. Bis eines Tages irgendein junger Kerl mit einem Ring im Ohr, der ein bisschen schwul aussah, bei ihm an die Tür klopfte, ziemlich fest, genau wie es Sergej so gar nicht liebte, und sagte, er habe ein paar Fragen, etwas fürs Fernsehen. Sergej gab ihm deutlich zu verstehen, dass er das nicht wollte, und schubste auch die Kamera ein bisschen weg, damit er begriff, dass es Sergej ernst war. Aber der Junge mit dem Ohrring
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