Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)
Rorschachpfad«, lächelte Herr Lipsker schief. »Bestechend. Ich liebe so was, Herr Arazi. Aber sind Sie wirklich sicher, dass alles in Ordnung ist mit Ihnen?«
»Absolut in Ordnung«, nickte Gerschon. »Wenn Sie gestatten, vielleicht könnten wir jetzt eine kleine Simulation des Spiels machen.«
»Simulation«, wiederholte Herr Lipsker. Er war viel jünger, als sich Gerschon vorgestellt hatte, und sein Haar war glänzend schwarz, ohne auch nur einen Hauch von grau. »Es tut mir leid, aber es scheint mir nicht die passende Zeit zu sein. Ihr Auge. Und die Nase, o Gott, so viel Blut. Wer hat Ihnen das angetan?«
Das Überraschungsei
Für Dani
Hört euch eine wahre Geschichte an. Vor drei Monaten ungefähr fand eine zweiunddreißigjährige Frau den Tod bei einem Selbstmordanschlag, der sich an einer Bushaltestelle ereignete. Nicht nur sie fand den Tod, noch viele andere und gute Menschen fanden ihn. Aber diese Geschichte ist über sie.
Die Menschen, die bei Terroranschlägen getötet werden, werden ins pathologische Institut nach Abu-Kabir zur Autopsie gebracht. Viele Leute in Schlüsselpositionen der israelischen Gesellschaft wundern sich über diesen Brauch, und auch die, die in Abu-Kabir arbeiten, begreifen nicht immer so recht, wozu. Die Todesursache bei solchen Anschlägen ist schließlich bekannt, und eine Leiche ist kein Überraschungsei, bei dem du, wenn du es öffnest, nicht weißt, ob du ein Segelboot, ein Rennauto oder ein Koalapüppchen darin findest. Man findet bei diesen Obduktionen doch immer die gleichen Dinge – Eisenstückchen, Nägel oder andere Arten von Splittern. Kurz gesagt, extrem wenig Überraschungen. Doch in diesem Fall, dem der zweiunddreißigjährigen Frau, fand man noch etwas Zusätzliches. Diese Frau hatte in ihrem Körper, neben all jenen Metallteilchen, die sich den Weg in ihr Fleisch gebohrt hatten, auch noch Dutzende Wucherungen, wirklich riesige. Tumore, die auch in Leber, Magen und Gedärmen saßen, hauptsächlich aber im Kopf. Als der Chirurg im pathologischen Institut in ihren Schädel hineinspähte, sagte er als Erstes »ach du liebe Scheiße«, denn es war schlicht beängstigend. Er sah Dutzende Tumore, die sich ins Gehirn eingefressen hatten wie eine Horde grausamer Maden, die nur unersättlich weiterschlingen wollen.
Und hier tritt man in das Stadium der wissenschaftlichen Erörterung ein: Wenn diese Frau nicht bei dem Anschlag gestorben wäre, wäre sie noch in der gleichen Woche wegen dieser Tumore zusammengebrochen und innerhalb von ein bis zwei Monaten, allerhöchstens, gestorben. Es ist schwer zu erklären, wie eine so junge Frau an einem derart fortgeschrittenen Krebs leiden konnte, ohne dass er überhaupt irgendwie diagnostiziert wurde. Vielleicht gehörte sie zu denen, die ärztliche Untersuchungen nicht mögen, oder sie dachte, die Schmerzen und die Schwindelgefühle, die sie hatte, seien ein vorübergehendes Phänomen, das von selbst verschwinden würde. Jedenfalls, als ihr Mann eintraf, um sie im Leichenschauhaus zu identifizieren, rang der Pathologe mit sich, ob er es ihm erzählen sollte oder nicht. Einerseits bestand die Möglichkeit, in dieser Eröffnung ein bisschen Trost zu finden – du musst dich nicht mit Reuegedanken von der Sorte »Wenn sie an dem Tag bloß nicht zur Arbeit gegangen wäre« martern oder »Hätte ich sie doch nur mit dem Auto hingebracht«, wenn du weißt, dass deine Frau ohnehin gestorben wäre. Andererseits konnte eine solche Nachricht noch mehr Kummer verursachen und diesen willkürlichen, schrecklichen Tod in einen zwar weniger willkürlichen, aber noch um vieles schrecklicheren verwandeln – denn die Frau starb quasi einen doppelten Tod, unausweichlich, als habe man im Himmel ihren Tod garantiert sicherstellen wollen, und keinerlei Überlegung von »Was wäre gewesen, wenn« hätte ihr Leben retten können, nicht einmal in der Phantasie. Und auf der dritten Seite, dachte sich der Pathologe, was spielt es denn eigentlich für eine Rolle? Die Frau war tot, ihr Mann Witwer, ihre Kinder waren Waisen, das war von Bedeutung, das war das Traurige, und der ganze Rest war bloß müßiges Geschwätz.
Der Ehemann wollte die Frau anhand ihres Fußes identifizieren. Die meisten Menschen identifizieren ihre Liebsten am Gesicht. Er aber wollte sie an ihrer Fußsohle identifizieren, denn er dachte, wenn er ihr totes Gesicht sähe, würde ihn dieser Anblick sein Leben lang verfolgen, oder richtiger gesagt, für den Rest, der davon übrig
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