Ploetzlich Shakespeare
die drei Männer aus Shakespeares kleiner Kammer. Sie waren also nicht von Phoebes Vater geschickt worden, sie hatten eine andere, finsterere Agenda: Wenn ihr mysteriöser Auftraggeber nicht möchte, dass Essex wieder auf die Beine kam, handelten sie entgegen den Interessen der Queen. Was hatte sie noch gesagt? Wenn England den Krieg in Irland gewinnt, dann werden die Spanier zuschlagen. Und um zu gewinnen, müsste Essex die Truppen führen. Tut er dies nicht, verliert England gegen Irland. Und Spanien würde diesen Augenblick der Schwäche ausnutzen und das Königreich überrollen. Also, so kombinierte ich, waren die Kapuzenmänner und ihr Chef spanische Spione, die verhindern wollten, dass Essex dank meiner Hilfe aus seinem Kummer herausfindet und nach Irland gelangt.
Ich war noch keine vierundzwanzig Stunden in der Vergangenheit und schon in eine handfeste Staatsintrige verwickelt!
Das bereitete mir noch mehr Angst als der Dolch am Hals, denn eins war klar: Ich musste schleunigst herausfinden, was die wahre Liebe ist. Denn früher oder später würde mich hier jemand umbringen. Höchstwahrscheinlich früher.
27
Die Wunde am Hals schmerzte, und die Oberarme taten weh. Ich stand auf und ging zu einem an der Wand hängenden kleinen Spiegel. Er war schmutzig und hing schief. Shakespeare war anscheinend nicht gerade ein Ordnungsfanatiker - was ihn ein ganz kleines bisschen sympathisch machte.
Im Spiegel erkannte ich, dass der Schnitt am Hals schon wieder zuging. Ich zog mein Hemd aus und begutachtete die Blutergüsse an den Armen. Shakespeares Oberkörper war gut gebaut, vielleicht etwas schmächtig, aber doch recht apart. Jedenfalls um einiges aparter als mein unaparter Frauenkörper im dritten Jahrtausend. Hätte ich Shakespeares Oberkörper an einem Badestrand gesehen, ich hätte ihm nachgeschaut. Aber da ich ja nun selber in diesem Körper steckte, zog ich mir das Hemd schnell wieder an. Stattdessen tigerte ich nervös in dem kleinen Zimmer auf und ab. Ich war viel zu aufgewühlt, um mich aufs Bett zu legen, geschweige denn zu schlafen. Nach all dem Erlebten konnte ich kein Auge mehr zubekommen. Zu Hause hätte ich mich auf mein Sofa gesetzt, an meinen Fingernägeln geknabbert und stundenlang durch das Fernsehen gezappt, auf der Suche nach den x-ten Serienwiederholungen von , oder gar , nur um festzustellen, dass alle Kanäle mit Kochshows verstopft waren oder mit halbnackten Frauen, die sich - etwas artikulationsgestört - wünschten, dass ich sie mal anrufe. Da es aber in Shakespeares England einen ziemlichen Mangel an Kabelfernsehen gab, konnte ich mich damit leider nicht ablenken. So tigerte ich weiter auf den knarrenden Holzdielen durch das karge Zimmer. Shakespeare hatte wahrlich keinen hohen Lebensstandard. Entweder er machte wirklich kein Geld mit seinen Stücken, was bei so vielen Zuschauern kaum vorstellbar war. Oder er gab das Geld für andere Dinge aus: Huren, Alkohol, Tabak? Mein Holgi - und auch Kempe - hätte dazu sicher gesagt, dass es durchaus schlechtere Investitionen gäbe.
Mein Blick fiel auf ein mit einem roten Leinentuch verhülltes Bild an der Wand. Ich ging hin, nahm das Tuch ab und sah eine liebliche, freundlich dreinblickende Frau. Sie war vielleicht keine umwerfende Schönheit, aber ihr Lächeln war herzerwärmend. Gegen diese Frau war die olle Mona Lisa eine Amateur-Lächlerin. Ich blickte auf die Rückseite des Gemäldes, und dort stand in kleiner Schrift: Mrs. Shakespeare.
Shakespeare war also verheiratet. Aber warum gab es dann nirgendwo Hinweise darauf, dass hier eine Frau wohnte? Und warum hatte er das Bild verhüllt? Vielleicht war er ja geschieden. Aber gab es überhaupt Scheidungen damals? Wohl kaum. Eheleute konnten sich hier vermutlich nur voneinander trennen, indem sie eine Sense benutzten und anschließend die Spuren verwischten.
Höchstwahrscheinlich lebte Mrs. Shakespeare einfach nur woanders, weil sie den Gott der Defloration nicht länger ertragen konnte.
Ich verhüllte das Bild von Mrs. Shakespeare wieder und blickte auf die Papiere, die Shakespeare da mit langer schwarzer Feder und schwarzer Tinte geschrieben hatte. lag obenauf. Ich legte den lustigen Hamlet beiseite und fand darunter einen Gedichtanfang:
Du bist für mich vergleichbar mit dem Sommertag,
Da ich ihn genauso mag
Hmm, ein Gedicht war das noch nicht. Und das, obwohl die Zeilen vom berühmtesten
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