P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
programmatisch am Ende. Appetitlos, unappetitlich. Sie ist es immer noch. Wir sind am Boden.
N.: Und doch sind Sie eine linke Politikerin.
V.: Rechts kann man nicht mehr sein, wenn man einmal verdorben ist. Links hat man keine Chance. Wir sind alle Gezeichnete. Aber einfach aufgeben gilt ja auch nicht. Wer sich enttäuscht als Linke aus der Politik zurückzieht, hat nichts verstanden. Enttäuschung ist eine wesentliche Grundlage unserer Politik. Begeisterung ist Gift.
N.: Und das sagt Manetti?
V.: Nein, das habe ich immer schon gesagt. Keine Visionen bitte, keine großen Linien, keine Grundwertedebatten – um Himmels willen. Grundwerte gibt es wie Sand am Meer. Keine großen Worte.
N.: Waren Sie auch dafür, dass die Überwindung des Kapitalismus aus dem SP-Parteiprogramm gestrichen wird?
V.: Das war eine typische Pseudo-Debatte, etwa so wie die Minarett-Initiative, oder die Überfremdung. Klar kann man das streichen, am besten auch noch den Sozialismus. Das ist sowieso nur ein Schwammbegriff – und außerdem historisch toxisch. Es gibt nur Kapitalismus oder Kommunismus – aberdas ist ja allen klar, nützt also niemandem. Nur die Grauzonen sind spannend.
N.: Wie und wo haben Sie nun Ihren Manetti gelesen?
V.: (schmunzelt) In der Toskana natürlich. Mit Prosecco und Crostini. Die Freundin, die ihn mir empfohlen hatte, hat eine kleine Wohnung in einem Städtchen südlich von Siena, in den Hügeln. Da wimmelt es von Wildschweinen, denn in jedem Restaurant gibt es dort Pappardelle al Cinghiale.
N.: Sie werden unseren Leser-äh-Innen aber nicht sagen, wie dieses Städtchen heißt …
V.: (lacht) Sicher nicht! Aber es ist ziemlich berühmt und bekannt – die halbe Zürcher Szene war schon in dieser Wohnung. Da steht ein Kochbuch von Alice Vollenweider auf dem Küchenbord. Unten im Haus befindet sich eine kleine Metzgerei. Gegenüber eine Gelateria.
N.: Sie gehören also zur berüchtigten Toskana-Fraktion.
V.: Nicht nur das, ich bin auch eine überzeugte Cüpli-Linke. Ich meine: Es geht bei der Politik darum, dass es uns nicht gut, sondern besser, sogar ausgezeichnet gehen soll. Und das möglichst subito. Da muss man einen guten Prosecco zu schätzen wissen. Im Manetti gibt es übrigens auch ein paar gute Pasta- und Risottorezepte.
N.: Manetti hat Sie also nicht verunsichert.
V.: Ich war immer schon verunsichert. Hoffentlich sind auch Sie das. Bei Manetti geht es um etwas ganz anderes. Es geht um das Verständnis unseres Scheiterns, eben nicht um 1./2./3., sondern um alle Zahlen zwischen 0 und 1. Aber da spiele ich natürlich nur mit Metaphern. Um zu verstehen, was ich meine, muss man Manetti schon selbst lesen. Und sich Zeit nehmen, einen Monat mindestens. Im Sommer werde ich ihn zum zweiten Mal lesen. Etwas stört mich noch, ich werde es herausfinden.
N.: Herzlichen Dank, Frau Vischer. Ich hoffe, Sie finden heraus, was Sie irritiert.
V.: Drauf können Sie wetten.
Wieder nichts Konkretes. Eine hedonistische Linke. Eine muntere, ältere Frau. Gut für sie.
6.
Das Interview löste einen Einfall aus: Diese Journalistin schien ziemlich interessiert daran zu sein herauszufinden, wo sich die Wohnung in der Toskana befand. Was, wenn sie gerade jetzt dort war und ihren Manetti las?
Nun gab es zwei Möglichkeiten: Ich konnte Rita Vischer kontaktieren, oder ich konnte direkt versuchen, die Wohnung zu finden. Rita war keine Unbekannte, ich kannte ihren Mann, Christian, ziemlich gut. Aber wenn ich sie aufscheuchte, würde Nora Nauer gewarnt sein, und alles war vergeblich.
Ich beschloss, sie zu überraschen. Warum, war mir nicht ganz klar. Ich hatte sicher nicht im Sinn, ebenfalls Manetti in derselben Wohnung zu lesen, denn man musste ihn allein lesen. Aber etwas Ortsveränderung würde mir auf jeden Fall guttun.
Rita Vischer hatte von Strickarbeiten geredet – es galt hier einem Faden zu folgen, sozusagen einen roten Faden zu finden.
Es war ein Kinderspiel herauszufinden, um welche toskanische Kleinstadt und um welche Wohnung, um welche Adresse an welcher Gasse, es sich handelte. Ich nahm die Bahn, dann einen Bus. Noch im Zug stellte ich zudem fest, dass ich nicht mehr versuchen musste, Rita Vischer zu kontaktieren.
Es war Spätsommer, noch ziemlich heiß. Die Badesaison an den benachbarten Stränden war immer noch im Gang. Ich fand ein Zimmer in einer kleinen Pension – zu einem unverschämten Preis.
Ich kaufte mir ein
Il Manifesto
und setzte mich in die Gelateria gegenüber Nummer 43. Irgendwann würde
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