P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
sie – oder wer auch immer – dort herauskommen oder hineingehen. Nora Nauers Foto hatte ich aus der erwähnten
Magazin
-Nummer. Ich erwartete eine schlanke, mittelgroße Frau mit dunkelblondem Haar, Brille, um die dreißig. Das Foto war klein gewesen und gab auch vergrößert nichts wirklich Charakteristisches her. Die ideale Journalistin. Touristenbewegten sich die Gasse hinauf und hinab. Fast alles Italiener. Shorts, Flipflops mit goldenen Riemchen. Viele Kinder. Die Gelateria machte ein gutes Geschäft – ich trank nur einen Cappuccino. Ich las über Berlusconi – da war wirklich etwas eingeschnappt. Die Italiener hatten offensichtlich genug von ihrem guten Ruf und sich vor der ganzen Welt als Idioten dargestellt. Die Linke sah noch unappetitlicher aus als zu Hause (gab es hier Linke wie Rita Vischer?). Hilfe! Wählt uns nicht! Wir wissen nicht, was wir wollen. Zum Glück gab es Probleme mit den Roma, den Boatpeople aus Afrika, dem verseuchten Mozzarella.
Gedanken gingen mir durch den Kopf. Was würde ich tun, wenn Nora Nauer wirklich erschien? Sie ansprechen? Abwarten? Ihr folgen? Wie konnte ich sicher sein, dass sie es überhaupt war? Ich beschloss, nur zu beobachten.
Es dauerte keine Stunde, da erschien eine Frau um die dreißig (weiße Shorts, Flipflops, Sonnenbrille) mit einer
NZZ
unter dem Arm. Sie hatte einen Schlüssel zur Tür neben der kleinen Metzgerei und verschwand sofort im Haus.
Das war sie also. Nichts sprach jedenfalls dagegen, dass sie es war. Was tun? Klingeln? Vielleicht kam sie ja auch wieder heraus. Es ging nun gegen acht Uhr. So um neun oder zehn Uhr würde sie vielleicht essen gehen. Wenn sie aus der Haustür kam, konnte ich sie ansprechen: ›Entschuldigung, Frau Nauer, mein Name ist Wehrli, dürfte ich Sie zu einem Apéro einladen?‹
Das war so gut wie jede andere Variante. Aufdringlich, aber höflich.
Ich konnte natürlich auch sagen: ›Guten Abend, Frau Nauer, wie kommen Sie voran mit Ihrem Manetti?‹
Aber das wäre dann schon ziemlich frech gewesen.
Vielleicht las sie auch nicht Manetti, sondern Carducci.
Ich bestellte einen zweiten Cappuccino. Ich kam zum Kulturteil. Sah schon besser aus als die Politik. Ein iranischer Film – da begann sich etwas wieder ›auszuschnappen‹.
Meine Gedanken kehrten zum »winter of discontent 78/79« zurück. England, Harrisburg, Iran, Carters Erlahmung, dieGrenzen des Wachstums, die bleiernen Jahre, die Achtundsechziger über dreißig. Entscheidende Jahre, vergeudet mit einer absurden Diskussion über den bewaffneten Kampf. Das Thema war seit 1848 abgeschlossen, 1870 mit der Commune definitiv erledigt, 1917 ein Nachholputsch in einem Schwellenland. Moral + Kanone = Stillstand. Blackout. Nahm mich wirklich wunder, was Manetti dazu zu sagen hatte. Rita Vischer hatte einige interessante Andeutungen gemacht. Hatten wir den neoliberalen Backlash wirklich herbeigewünscht? War die sogenannte Achtziger-Bewegung eine Einladung an Reagan, Thatcher, Blocher und Co. gewesen? Warum wurden die Punks Mitte der siebziger Jahre von Malcolm McLaren und Vivienne Westwood erfunden? Wir sind nackt, macht mit uns, was ihr wollt, aber macht etwas! Die Kulturleichen waren keine Metapher gewesen. Es war nicht Dada und Ironie, sondern purer Ernst gewesen. Die Missverstandenen waren durchaus verstanden worden. Gebt uns Kultur, und wir sind zufrieden. Gebt uns Islam, Turbane, Schleier und Bärte! Steinigt uns! Verbraucht das Erdöl, damit wir die Konsumgesellschaft möglichst bald hinter uns haben. Let’s get it over with! Zurück! Zurück! Krieg! Religion! Denkstopp! Anything goes, und nichts bewegt sich.
Die Eisbären kommen. Freiheit für Grönland – Sklaverei für uns. Könnt ihr haben.
Weg mit den Alpen, freie Sicht aufs Mittelmeer. Aber das ist schon verseucht, überlaufen, überfischt. Und Löcher durch die Alpen gibt’s inzwischen jede Menge. Dann kamen die Computer, und die ganze Scheiße wurde digital wiederverwertet.
Da kam sie wieder heraus.
Diesmal in einem geblümten Rock, mit Sandalen, ohne Sonnenbrille. Eleganter, bereit zum Ausgehen.
Ich stand auf und schon vor ihr:
»Meier, Frau Nauer?«
»Was?«
»Ich bin Paul Meier, sind Sie Frau Nauer?«
»Was geht Sie das an?«
»Ich habe Ihre Interviews im
Magazin
gelesen. Es gibt offene Fragen …«
Da lachte sie laut heraus. Die Leute drehten sich nach uns um.
Ich hatte das Spiel gewonnen.
»Dürfte ich Sie zu einem Aperitif einladen?«
»Um die offenen Fragen zu beantworten?«
»Na
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