P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
nicht alle fossilen Brennstoffe für sinnloses Herumfahren verbrauchen. Wir benötigen gerade die fossilen Brennstoffe noch einmal, um die nachhaltigen Aggregate und Strukturen aufzubauen. Windturbinen erzeugen nicht genug zusätzliche Energie, um mit dieser genug Windmühlen zu bauen. Fotovoltaik ist zuerst Erdöl auf Dächern, bevor sie Nettoenergie liefert.«
»Sieht nach einem Teufelskreis aus, den wir nicht durchbrechen können. Wenn die Leute wüssten, wie angenehm das nichtkonsumistische Leben hier in Alívio ist, dann würden sie gerne umschwenken. Aber um es glauben zu können, müssten sie es schon haben.«
»Die Menschen haben schon eine gewisse Vorstellungskraft. Konsumismus ist ja nur ein Ersatz, ein Versuch, mit Gütern soziale Beziehungen und emotionale Befriedigungen zu simulieren, ein Gefühl der Zugehörigkeit und des Dabeiseinsbei wichtigen Dingen zu erhalten. Wenn man aber wirklich dazugehört und als Person geschätzt wird, dann zerfällt der Konsumzwang.«
»Und trotzdem habt ihr hier einen McDonald’s.«
Roberto lachte laut und herzhaft. »Schau ihn dir nur einmal genau an. Wir haben auch eine Filiale der UBS, einen Gucci-Laden, einen Apple-Store, ein Starbucks Coffee.«
»Es sind nur Attrappen?«
»Genau. Wir wollen ja nicht auffallen. Schau dir einmal Alívio auf Google-Earth an. Du entdeckst McDonald’s, Coca-Cola-Werbetafeln, 7-Eleven; was immer du willst, wir haben es. Nur geht dort niemand hin. Wir haben einige Hundert Autoattrappen vor einem flachen Gebäude aufgestellt, das aussieht wie ein Shopping-Center. Es ist nur eine Lagerhalle von Aliva. Warum sollte jemand hier shoppen wollen? Es ist ja alles im Haus vorhanden.«
»Es wird alles herauskommen.«
»Sicher. Andererseits kümmert sich auch niemand gezielt um eine abgelegene Kleinstadt im Mato Grosso.«
»Aber du befürchtest ein grausames Ende. Die Einladung durch das Buch war eine zu einer Abschiedsveranstaltung.«
»Wie gesagt: Alles muss ein Ende haben. Und es stimmt, der Zeitpunkt der Einladung war nicht zufällig. Wir tätigen jetzt die letzten Investitionen, um einen Zustand langer Nachhaltigkeit herzustellen. Darum haben wir noch für einige Hundert Millionen Dollar Kunstwerke verkauft. Einige haben wir allerdings auch im städtischen Kunstmuseum ausgestellt. Musst du dir anschauen. Alívio ist jetzt fertig, es kann nicht mehr wachsen. Eine systemische Suffizienz ist erreicht. Die natürlichen Ressourcen tragen hier nicht mehr Menschen. Wir hatten vierzig Jahre nachhaltiges Wachstum, das ist jetzt vorbei, zumindest hier. Dazu kommt, dass ich nicht mehr der Jüngste bin und euch noch einmal sehen wollte. Es ist also auch mein Abschiedsgruß an die gute, alte, erfolglose Zürcher Szene.«
»Du hast deine nachträgliche Beerdigung inszeniert.«
»Wenn du so willst. Ich musste meinen Abgang inszenieren,um Nachforschungen über meinen Verbleib, die geradewegs nach Alívio geführt und seinen Aufbau gestört hätten, zu unterbinden.«
»Aber jetzt wird Alívio ins Gerede kommen.«
»Ich glaube nicht. Die Welt wird in den nächsten Jahren andere, größere Sorgen haben.«
»Mir gefällt’s hier«, sagte ich.
»Freut mich. Schau dir auch das Kulturprogramm an. Es gibt heute im Literatursalon des Museums eine Robert-Walser-Lesung, auf Deutsch, von einem gewissen Rudolf Merz. Morgen hält Tim Jackson einen Vortrag in der Aula des Gymnasiums. Er hat ein Buch geschrieben mit dem Titel:
Wohlstand ohne Wachstum
. Auch ihm gefällt Alívio. Wir haben eine Theatergruppe, einen Chor, mehrere Orchester, Tanzgruppen, alles Mögliche.«
»Eine lebendige Kleinstadt.«
»Es gibt ein Meditationszentrum. Und weit draußen, jenseits der Felder, haben wir eine Art Retreat eingerichtet, eine Einsiedelei in der Wildnis. Da ist es absolut ruhig.«
»Dort bist du oft, nicht wahr?«
»Erraten.«
Ich dachte mir: Manetti lesen heißt ihm in die Einsiedelei folgen. Ich war jetzt sicher, dass ich ihn definitiv nicht mehr zu lesen brauchte.
Am Nachmittag führte mich Lea durch die Landwirtschaft. Da den Wohngenossenschaften und der Alivicom alles Land im Umkreis von ca. 10 Kilometern gehörte, waren das gut 30000 Hektar. Etwa 2000 Bewohner waren mehr oder weniger intensiv in der Landwirtschaft tätig, sei es für die 30 Genossenschaftsfarmen oder die zusätzlichen Ländereien der Alivicom. Dabei waren die Gärten und Felder der
habicombis
, die der alltäglichen Versorgung dienten, am Stadtrand, die andern Flächen weiter außen
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