P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
klar. Da ist zum Beispiel der Winter 1978/79 …«
»Vielleicht sollten wir das nicht mitten auf der Gasse besprechen«, sagte sie, »gehen wir zur Bar an der Piazzetta da unten.«
Wir gingen die Gasse hinunter und kamen zu einem Platz, wo an zwei Ständen Schinken, Steinpilze und Pecorini verkauft wurden. Es war eine dieser Sagras im Gang. Leute standen herum und aßen Bruschette. Ein Knistern lag in der Luft. Die Bar hatte ein paar Tischchen auf dem Platz und war auf lokale Weine spezialisiert.
»Es ist jetzt die Zeit der Steinpilze«, erklärte Nora Nauer.
Sie wies mir einen Platz zu und verschwand im Lokal. Fünf Minuten später kam sie mit zwei Gläsern Rotwein und einem Tellerchen voll Steinpilzbruschette zurück. Sie setzte sich neben mich.
»Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, dass ich die Gastgeberin spiele – ich bin schon drei Wochen da.«
»Und wie kommen Sie mit dem Manetti voran?«
»Seite 853.«
Sie hob das Glas. »Auf Roberto Manetti!«
»Auf Roberto Manetti!«
Es war ein runder, dicker Rotwein mit einem animalischen Auf- und Abgang.
»Offensichtlich haben Sie Manetti noch nicht gelesen«, erklärte Nora Nauer.
»Und warum nicht?«
»Weil man mit ihm nicht
voran
kommt.«
»Man kommt
zurück
.«
»Richtig.«
Nora Nauer war gut aufgelegt. Ich hatte sie in einem guten Moment erwischt. Ich störte nicht.
»Ich nehme an, Sie haben die Adresse hier von Rita Vischer«, begann ich.
»Genau – und wie haben Sie sie herausbekommen?«
»Herumgefragt. Es war ein Kinderspiel. Halb Zürich war schon hier.«
Sie seufzte theatralisch.
»In den selben Betten«, fügte ich hinzu.
»Sie heißen nicht wirklich Meier«, stellte sie nach einem Bissen von einer Bruschetta fest.
»Nein – Müller. Isidor Müller. Meine Freunde nennen mich Isi. Kann man sich leicht merken: easy.«
Sie schüttelte den Kopf, als ob sie ein lästiges Insekt loswerden wollte. »Und was suchen Sie nun hier?«
»Ich möchte Sie interviewen – wie Sie Manetti lesen usw.«
»Sie sind aber nicht Journalist?«
»Nein, ich bin privat hier. Ich habe schon mit Marcel Lüthi gesprochen. Margrit Limacher ist ja verschwunden.«
»So, so, verschwunden.«
»Sie wissen nicht zufällig, wo sie ist?«
»Wenn ich es wüsste, wäre es nicht zufällig. Und dann wüsste ich auch nicht, warum ich es Ihnen sagen sollte.«
»Ich habe Sie gefunden – ich kann auch Margrit Limacher finden.«
»Tun Sie das.«
Das klang, als ob Nora Nauer sie eigenhändig umgebracht und entsorgt hatte.
»Marcel Lüthi ist ein ziemlicher Langweiler«, sagte sie nach einem Schluck Wein.
»Ja, die Geschichte mit den Zwergelefäntchen kann einem schon auf den Wecker gehen.«
»Das meine ich nicht, er ist ein normaler Grüner. Er will Arten retten, seinen Fußabdruck verkleinern – am besten klettert er wieder auf die Bäume zurück. Da gibt’s nur noch Handabdrücke.«
»Er hat ja recht.«
»Das entschuldigt nichts.«
Nora Nauer war definitiv sehr gut aufgelegt. Es war auch nettauf der Piazzetta, etwas voll vielleicht. Der Wein war ausgezeichnet, die Pilze schmackhaft.
»Und wie lesen Sie nun Manetti?«
Sie überlegte. »Ich werde Ihnen dazu nichts sagen. Ich werde Ihnen aber ein paar Fragen stellen. Kennen Sie Rita Vischer privat?«
»Flüchtig. Ich kenne ihren Mann und ein paar Leute, die sie kennen, zum Beispiel Peter Rüegg.«
»Peter Rüegg kennen alle. Er spielte damals in den siebziger Jahren eine wichtige Rolle. Das hab ich bei Manetti gelesen. Aber jetzt ist er bei einer NGO.«
»Wenn die Privatisierungen weitergehen, sind wir am Schluss alle bei einer NGO.«
Sie quittierte das mit einem anerkennenden Nicken. »Haben Sie Manetti gekannt?«
»Ich glaube schon. Ich muss ihn getroffen haben, habe aber nie mit ihm zu tun gehabt. Er war einmal in unserer WG eingeladen. Er hat viele Fragen gestellt.«
»Er kannte, glaube ich, alle WGs von Zürich.«
»Und noch einige in Bern und Genf. In Basel war er aber nie.«
»Basel war etwas anders«, stimmte sie mir zu.
Basel hatte immer etwas Solides gehabt. Vielleicht weil es eine Stadt war, wo die ganze Zeit über wirklich nützliche Produkte hergestellt wurden. Keine Aufregung um angebliche »Finanzprodukte«, sondern Medikamente, Chemikalien, Werkstoffe. Ursache und Wirkung. Nebenwirkungen. Als Basler brauchte man sich nicht besonders aufzuregen. Außer über die Atomkraft – das war ihnen zu viel gewesen. Kaum jemand in Basel würde wohl Manetti lesen wollen. Wozu auch?
»Kennen Sie
Weitere Kostenlose Bücher