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P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

Titel: P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
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Lernstörungen, Motivationsprobleme, Liebesgeschichten. Sie hat ihre Mutter sozusagen erpresst, das Interview zu geben.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Ist doch logisch: Ihre Mutter, die tolle Frau, das politischeTier, die rothaarige Realistin, musste sich als Leserin eines neoromantischen Autors outen.«
    »Aber sie hat das doch perfekt geschafft.«
    »Ja, wie alles. Für Jeannine hat das nichts gebracht. Aber immerhin: Rita Vischer konnte sich nicht entziehen. Und sie hat ja auch einiges gesagt. Die Grauzonen, die Enttäuschung, die Krise der Linken.«
    »Ja, aber so wie sie es sagte, klang das doch geradezu abgeklärt, supercool. Ich war ziemlich begeistert. Endlich einmal keine dieser linken Moraltanten.«
    Es kamen nun die Ravioli und die Pappardelle.
    »Ohne Moral geht gar nichts«, stellte Nora Nauer klar.
    »Was denn nicht?«, gab ich zurück.
    Sie zeigte auf meinen Teller: »Für Sie starb ein Wildschwein.«
    »Das ist eine ziemlich kühne Annahme«, gab ich zurück.
    »Oder sonst ein Schwein.«
    »Irgendwo in der EU. Vor langer Zeit.«
    Sie lachte. Immerhin.
    »Nun, Sie kennen ja jetzt Manetti ein bisschen: Warum könnte Rita Vischer verschwunden sein?«
    »Das braucht nichts mit Manetti zu tun zu haben«, entgegnete Nora Nauer.
    »Die Zufälle häufen sich. Ich kann ja auch einmal nachschauen, ob Marcel Lüthi noch unter uns weilt.«
    Marcel Lüthi war auch ein Moralist. Er hatte sich der Sache der afrikanischen Nashörner verschrieben. Sie waren vom Aussterben bedroht. Und das nur, weil chinesische Machos ein Potenzmittel aus ihren Hörnern machten.
    Ich versuchte es nochmals: »Nehmen wir einmal an, es hat etwas mit Manetti zu tun – was könnte das sein?«
    Sie ging darauf ein. »Manetti hat etwas Reflexives. Etwas Sokratisches. Er ist ein Katalysator, ein Geburtshelfer. Man hat ihn auch schon einen kollektiven Psychoanalytiker genannt. Man denkt über sein Leben nach, wenn man ihn liest. Und da kommt man vielleicht auf überraschende Einsichten. Man sieht sein Leben in einem andern Licht, man evaluiert die vergangenen Jahre. Bei mir sind es eher die neunziger Jahre, bei Rita und Marcel die siebziger und achtzigerJahre. Und da fragt man sich: Was haben wir getan? Was haben wir uns angetan?«
    »Bei Ihnen müssten es die nuller Jahre sein«, gab ich zu bedenken, »ich nehme an, Sie sind um die dreißig, geboren Ende der Siebziger, da haben Sie sich mit Manetti nur noch zwei, drei Jahre überlappt.«
    »Sie vergessen meine Eltern«, warf sie ein, »ich bin in WGs aufgewachsen.«
    Klar, die WGs. Da bekommt man als Kind einiges mit.
    »Reden wir von den nuller Jahren«, versuchte ich es, »die letzten zehn Jahre. Garantiert Manetti-frei. Was waren die nuller Jahre für Sie?«
    »Aber die haben Sie ja auch erlebt!«
    »Ja, aber nicht gleich. Für mich kamen sie nach den Sechzigern, Siebzigern, Achtzigern, Neunzigern. Jahrzehnte sind für mich nichts Besonderes mehr. Ich bin an das Vergehen von Jahrzehnten gewöhnt. Ich bin daran gewöhnt, sie locker zu bewerten und einzuordnen: ah, die dummen achtziger Jahre, die idiotischen neunziger Jahre … aber für Sie ist es das erste wirklich bewusst erlebte Jahrzehnt. Eine aktiv gelebte Zeit. Vergangenheit ist nicht Vergangenheit. Was haben Sie sich in den nuller Jahren angetan?«
    »Sie reden wirklich wie Max Frisch.«
    »Das habe ich nicht gefragt.«
    »Klar. Ich muss nachdenken. Ich habe gekauft und verkauft. Ich habe versucht, meinen Platz im herrschenden Kraftfeld zu finden. Mich tot zu stellen, aber lebendig zu wirken. Haben Sie bemerkt, wie viele Vampir-Filme es in letzter Zeit gab? Wie viele Filme und Bücher über lebende Tote, über das Leben nach dem Tod, über das simulierte Leben? Ist das Leben ein Computerspiel? Spielen Sie Computerspiele?«
    »Nein, zu anstrengend.«
    »Gut. Wir sind die Generation der lebenden Toten. Wir können verstehen, warum sich jemand als Selbstmordattentäter mit andern zusammen in die Luft sprengt. Das ist ganz normal. Er – oder sie – lebt ja weiter, als YouTube-Film im Netz. Es ist nur Simulation.«
    »Jetzt weichen Sie aus, Sie versuchen originell zu sein. Ich will aber keine Ihrer Kolumnen.«
    »Sie wollen es wirklich wissen. Nun, als ich 2001 mit dem erwähnten Lizentiat abschloss, krachten die beiden Flugzeuge in die World Trade Center Towers. Bush war erst ein paar Monate im Amt. Nach den Clinton- und Schröder-Jahren erwarteten wir eine unproblematische Zeit, mit einigen Auf und Abs, aber nichts Seriöses. So

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