P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
das konnte man mit Frisch nicht. Er war eher ein Aufräumer als ein Wegbereiter.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Sie sind schon komisch«, sagte sie.
»Ich bin zwanzig Jahre älter als Sie, das
ist
komisch.«
»Sie reden wie Max Frisch.«
»Der war auch immer zwanzig Jahre älter.«
Der Wein wurde gebracht, Bruschette und Soppressata.
»Peter von Matt kannte Elsa Manetti«, fuhr Frau Nauer fort, »sie waren einmal zusammen in einer Kommission. Ich hatte bei ihm eine Lizentiatsarbeit zum Thema Fiktion und Ironie bei Dürrenmatt und Frisch geschrieben. Können Sie sich das vorstellen? Fiktion und Ironie?«
»Ich kann mir beides nicht wirklich vorstellen«, gab ich zu.
Ich probierte meine Soppressata: feiner als Schwartenmagen, weniger fettig, würziger.
»Aber ohne Ironie funktioniert wahrscheinlich die Fiktion nicht«, schlug ich vor.
Es war mir ziemlich egal, wie was funktionierte. Ich fragte mich nur: Was wollte eigentlich Nora Nauer von mir? Sie wollte mich einschätzen: Wen kannte ich, wen nicht. Was würde ich tun, was nicht.
»Und so wandte sich Elsa Manetti an mich, als der Ammann-Verlag Manetti herausgab. Peter von Matt hatte mich empfohlen. Weil ich etwas von Fiktion und Ironie verstehe, nehm ich einmal an«, sie biss in eine ihrer Bruschette.
»Haben Sie damals das Interview im
Magazin
gelesen?«, fragte sie mich.
»Selbstverständlich.«
»Damit begann der ganze Manetti-Boom.«
Ich war immer noch an der Soppressata.
»Was ich nicht verstehe«, sagte ich, »ist die Wartezeit von fast zehn Jahren. Roberto Manetti starb 1999, die Publikation erfolgte erst 2009.«
»Das hatte ihm Elsa auf dem Totenbett versprochen. Er wollte, dass die Bücher erst später erschienen, aus nicht mehr aktuellem Anlass. Sie sollten aus sich selbst wirken.«
»Woher wissen Sie das?«
»Sie hat es mir gesagt.«
»Und Sie glauben das?«
Sie blieb stumm.
»Diese ganze Familiengeschichte ist voller Rätsel«, fuhr ich fort, »und wir haben nur Elsas Version – stimmt’s?«
»Ja, alle andern sind ja tot.«
»Die Mutter stirbt, der Vater stirbt, seine erste Frau stirbt, Roberto Manetti stirbt. Aber Elsa ist voller Energie, treibt den Zürcher Kunstbetrieb voran, ist in diversen Kommissionen, mischt bei der Expo.02 mit, erbt alles Geld, ist eine phantastische Frau …«
Nora Nauer runzelte ihre Stirn und blickte mich streng an.
»Was wollen Sie damit sagen?«
Ich trank von meinem Wein. »Gar nichts. Ich meine: Sie als Journalistin müssten sich doch solche Fragen stellen. Ich bin nur ein Leser, ein Literaturkonsument. Zudem frage ich mich: Warum haben Sie nicht Manetti gelesen, bevor Sie all diese Interviews führten? Warum lesen Sie Manetti erst jetzt? Wie können Sie Leute über Texte interviewen, die Sie selbst nicht kennen?«
»Ich wollte nicht voreingenommen sein.«
Das war eine klare Antwort. Genau darum stand ja der Schuber auch bei mir zu Hause noch auf dem Regal und blickte mich so herausfordernd an. Jedes Mal sagte ich dann zu ihm: Warte nur, mein Freund, du kommst schon noch dran.
»Das ist doch ein seltsames Phänomen«, erklärte sie, »Notizbücher eines unbekannten Autors erscheinen in einem bekannten Verlag und sind sofort der Erfolg des Bücherherbstes. Die literarische Qualität ist unbestritten – Peter von Matt hat dazu ja einiges gesagt. Es geht nicht um eine billige Sensation, sondern um den Inhalt, um die Form. Es handelt sich um ein literarisches Ereignis sui generis.«
»Hat denn Peter von Matt Manetti gelesen?«
»Ja, das hat er. Zumindest hat er ihn durchgesehen.«
»Sonst wäre er ja verschwunden«, warf ich ein, »wie einige andere.«
»Ich bin nicht verschwunden«, protestierte Nora Nauer, »ich habe mich nur zurückgezogen.«
»Aber vielleicht verschwinden Sie ja, wenn Sie ihn ganz gelesen haben, wie Margrit Limacher, und Rita Vischer.«
Sie machte große Augen. »Rita Vischer ist verschwunden?«
»Ja, lesen Sie denn die
NZZ
nicht? Es steht in der heutigen Ausgabe: Kantonsrätin Rita Vischer seit drei Tagen vermisst.«
»Die
NZZ
von heute habe ich noch nicht gelesen.«
»Ja, sie sah noch ganz frisch aus, als Sie das Haus betraten.«
»Sie haben mich beobachtet.«
»Nein, ich saß in der Gelateria und habe auf Sie gewartet.«
»Ich kann es nicht fassen«, stöhnte sie, »Rita Vischer hat es auch erwischt. Wissen Sie, warum ich sie interviewt habe?«
»Nein.«
»Weil ich mit ihrer Tochter am Gymnasium war. Jeannine hatte viele Probleme zu jener Zeit. Drogen,
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