P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
serviert.
»Worum sonst sollte es bei Manetti gehen?«, gab sie zurück. »Und das da …« Ich machte eine den heiteren Marktplatz umfassende Handbewegung, »das ist nur falsches Leben?«
»Das ist der helle Wahnsinn. Die Welt ist wahnsinnig, die Konkurrenz, der Konsumwahn, das zerstörerische Wachstum, Armut, Elend, Krieg.«
»Finden Sie? Es sieht doch hier ganz friedlich aus.«
Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. »Warten Sie, bis es Nacht wird. Dann ist dieser Platz öde und verlassen, und es treiben sich nur noch Banden von Neonazis herum.«
»Neonazis in Güstrow?«
»Wo leben Sie? Die Arbeitslosigkeit ist hier über zwanzig Prozent. Diese Freundlichkeit hier ist nur Oberfläche. Es herrscht hier Leere, ein Abgrund an Sinnlosigkeit.«
Ich aß die Butterbrezel und fragte mich, was ich mit Frau Kallberger anfangen sollte.
»Komisch, dass Sie als Psychiaterin vom Wahnsinn reden.« »Susanne. Daran ist nichts komisch. Auch wir können unsere Klienten höchstens vom Elend ins gewöhnliche Unglück befördern. Bestenfalls, wenn wir Erfolg haben. Die Situation ist völlig verfahren. Fast jede Stadt hier hat zwanzig bis dreißig Prozent der Bevölkerung verloren. Es gibt nichts zu tun hier.«
»Der Bahnhof ist neu renoviert, der Marktplatz sieht gut aus – dort hinten gibt’s sogar einen kleinen Bauernmarkt mit Frischprodukten aus der Region. Bunte Hausfassaden. Ich sehe viele Touristen, Radfahrer, Wanderer. Alle scheinen bester Laune zu sein. Jemand spielt sogar Harmonika.«
»Sie sind ein Zyniker.«
»Ein Optimist.«
»Noch schlimmer.«
Ich hatte es also geschafft, sie ein bisschen aufzuheitern.
»Der mit der Harmonika ist ein rumänischer Bettler«, versetzte sie.
Ich schaute genauer hin. »Stimmt. Da ist eine ganze Gruppe.«
»Die klauen alles, was nicht niet- und nagelfest ist.« Ich dachte an meinen geliehenen BMW. Hoffentlich hatte ich die Fernverriegelung richtig bedient.
Ich betrachtete wieder die Passanten. Mir fiel auf, dass sie alle mit gesenktem Kopf gingen, sie ließen buchstäblich die Köpfe hängen, auch die Touristen.
Als ich Susanne darauf ansprach, antwortete sie: »Du hast recht. Nach zwei Diktaturen und einem rabiaten Kapitalismus, da vergeht die gute Laune.«
»Sie scheinen keinen Appetit auf neue soziale Abenteuer mehr zu haben.«
»Appetitlosigkeit, das beschreibt es. Es herrscht hier soziale Anorexie.«
»Und darum willst du nun weg«, sagte ich nach einer Weile.
»Klar, alle wollen weg. Diejenigen, die Manetti gefolgt sind, müssen gewusst haben, wohin.«
»Roberto Manetti ist gestorben«, stellte ich fest.
»Ja, aber vorher hat er noch etwas eingerichtet, oder von seiner Schwester einrichten lassen. Er hat eine Nummer hinterlassen.«
»Die Nummer ist jetzt tot. Der Fluchtweg ist abgeschnitten.«
»Weißt du nicht, wo sie hin sind?«
»Keine Ahnung. Wir haben Pech gehabt, wir müssen bleiben.«
Sie starrte mich ungläubig an. »Wir müssen herausfinden, wohin sie gegangen sind.«
Ich machte eine abwehrende Handbewegung. »Das habe ich Christian Vischer versprochen. Aber ich komme nicht weiter. Ich pralle auf eine Mauer des Schweigens.«
Sie blieb misstrauisch. »Es muss Hinweise in Manettis Notizbüchern geben«, beharrte sie, »ich habe alle dabei.«
Sie zeigte auf ihre Tasche.
»Auch Band 11?«
»Den auch.«
Ich wusste nicht, ob ich mit Frau Doktor Kallberger – Susanne – überhaupt zusammenarbeiten wollte.
Ich betrachtete den skurrilen Kupferturm der klobigen Pfarrkirche, schaute einem jungen Paar zu, das vor einer Fleischerei Proviant in seine Fahrradtaschen verstaute, sah einen Polizisten rein zufällig zur Gruppe der Rumänen schlendern. Es gibt nichts Besseres als Realität, wenn man die Wirklichkeit verdrängen will.
»Herr Schneider hat mich auf einen Gutshof eingeladen«, meldete sich Susanne neben mir.
»Da wohne ich auch. Ich schlage vor, wir fahren zu einem dieser Seen und essen zu Mittag.«
»Du hast ein Auto?«
»Klar, einen BMW – geliehen von den Lutzens.«
Sie ergriff ihre Tasche, und wir gingen.
Der BMW war noch da, unzerkratzt, zwischen VWs, Opel und Skodas.
»Ein X3, und ganz neu!«, rief Susanne entzückt aus, als sie sich anschnallte.
Ich manövrierte aus der Parklücke und brauste bald darauf über eine Nebenstraße mit wenig Verkehr. Es ging Richtung Südosten. Verschiedene Schilder wiesen auf Seen, Burgen und Gasthöfe hin. Wir fuhren eine Weile herum.
Irgendwann bog ich nach links ab, zum Plauer See.
Ich parkte
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