P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
auf Ferien gefreut haben, früher, als wir noch Ferien hatten. Was weißt du denn darüber?«
Ich musste vorsichtig sein. »Nicht viel. Ich bin ein Freund von Christian Vischer, dem Mann von Rita. Ich habe ihm versprochen, seine Frau zu finden.«
»Und warum macht er das nicht selbst?«
»Er hat Verpflichtungen.«
»Seine Frau verschwindet – und er hat Verpflichtungen!«
»Er ist Prorektor an einem Gymnasium. Und sein Chef ist ebenfalls verschwunden.«
»Komisch – wie alle verschwinden.«
Sie blickte mich erwartungsvoll an.
Da kam Theo zurück.
»Ich habe Paul die Schlüssel gebracht und ihm den Weg nach Güstrow beschrieben«, erklärte Chantal etwas zu schnell.
Theo schaute uns misstrauisch an. »Sehr gut. Ich habe noch eine Frage wegen der Vorhänge. Hast du die Maße noch?«
»Ich komme.«
Und sie gingen weg.
Schade, aus Chantal hätte ich noch einiges herausgekriegt. Wenn hier zweihundert LeserInnen durchgekommen waren, dann musste es noch andere Auffangorte geben, denn gemäß Noras und Jeannines letzten Berechnungen mussten seit Juli mindestens fünfhundert Personen verschwunden sein. Es ging jetzt darum herauszufinden, wo Elsa noch Wohnungen besaß. Paris bot sich an. Oder New York.
Wenn ich Frau Kallberger in Güstrow treffen wollte, dann musste ich jetzt los.
19.
Ich parkte den BMW auf einem Parkplatz im Ort und ging den Rest bis zum Bahnhof zu Fuß. Von einem türkischen Imbissstand aus konnte ich den hübschen, frisch renovierten Bahnhof im Auge behalten. Der Zug aus Berlin war in zehn Minuten fällig. Bevor ich Frau Kallberger kontaktierte, wollte ich beobachten, ob sonst noch jemand Bekanntes ankam.
Ich war mir nicht hundert Prozent sicher, ob ich wirklich beim türkischen Imbiss vor dem Bahnhof Güstrow stehen und auf Frau Kallberger warten wollte. Das Wetter war zwar prächtig: dicke weiße Wolken, Sonnenschein dazwischen, ein frischer Wind. Auf dem Bahnhofplatz trockneten die letzten Pfützen. Alles bestens. Aber was sollte ich in Güstrow? Und warum sollte ich Frau Kallberger treffen? Genauso gut konnte ich mit dem BMW nach Rostock fahren, oder nach Warschau, oder eine Spritzfahrt quer durch die Mecklenburgische Seenplatte machen.
Der neue, schnittige, blau-gelb-weiße Regionalzug rollte in den Bahnhof. Ein elegantes Paar, ein paar Schüler, zwei Geschäftsleute, eine ältere Frau mit viel zu großem Koffer – und dann: Frau Kallberger. Sie war sportlich angezogen, Jeans,leichte Lederjacke, und hatte nur eine Reisetasche dabei. Sie wandte sich Richtung Taxistand.
Als niemand sonst herauskam, löste ich mich vom Stehtischchen des Imbissladens und nahm Kurs auf sie. Knapp bevor sie beim ersten Taxi war, konnte ich ihre Aufmerksamkeit erregen.
»Gut, dass ich Sie treffe«, sagte sie, mit einem Ausdruck der Erleichterung in ihrem sonst angespannten Gesicht. Ihr dunkelblondes Lockenhaar war zerquetscht, sie hatte Augenringe, tiefe Falten um Nase und Mund. Sie sah aus wie ein Flüchtling aus einem Krisengebiet.
Ich nahm ihr die Tasche ab.
»Wo ist Marcel Lüthi?«, fragte ich, während ich sie vom Bahnhofplatz weg zur Stadtmitte geleitete.
»In der Klinik – er hatte einen schweren Rückfall.«
»Und Sie – Sie haben wohl seinen Manetti gelesen?«
»Selbstverständlich. Das gehörte zu meiner ärztlichen Pflicht.« »Inklusive Band 11 – wie sind Sie darauf gekommen?«
»Sie erwähnten, dass die Zahl, also das Datum, eine Nummer sei.«
»Sie haben sofort verstanden. Noch bevor Marcel drauf kam.«
»Er war erschöpft, ich musste ihn ruhigstellen.«
»Alles klar. Er ist sediert, und Sie nehmen den nächstbesten Zug nach Berlin.«
»Ich brauche dringend einen Espresso.«
Wir entdeckten ein Straßencafé am Marktplatz und setzten uns auf die Terrasse.
»Machen Sie mir Vorwürfe?«, fragte sie, nachdem wir Espressi und Butterbrezel bestellt hatten.
»Wozu? Sie kommen zu spät. Marcel wäre auch zu spät gekommen. Aber ich bin nicht sicher, ob es ethisch ist, einen Patienten zu sedieren, um sich einen Vorteil zu verschaffen.«
Sie blickte mich empört an. »Das geht Sie nichts an. Ethisch! Meinen Sie, Marcel könnte in seinem Zustand eine solche Enttäuschung verarbeiten? Zwei Wochen Delirium haben ihre Spuren hinterlassen.«
»Aber Sie? Was wollen Sie?«
»Ich will das richtige Leben finden, genauso wie Rita Vischer, Margrit Limacher, Erich Schmidli …«
»Das richtige Leben – wie kommen Sie darauf, dass es darum geht?«
Die Espressi und die Brezel wurden
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