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P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

Titel: P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
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Mitteleuropa.«
    Der Streit der Kinder um das Paddel war nun so weit eskaliert, dass eine Mutter herbeirannte und das Boot konfiszierte. Die Kinder schrien, die Mutter schimpfte und schwang dazu drohend das Paddel über ihren Köpfen.
    »Hast du Harald Welzer gelesen?«, fragte Susanne.
    »
Das Ende der Welt, wie wir sie kannten
. Und fühle mich prächtig dabei. Ein ausgezeichnetes Buch.«
    »Er hofft auf das Wir-Gefühl. Ohne einen Fluchtpunkt der Wir-Identität, der in der Zukunft liegt, wird man kein neues kulturelles Projekt entwickeln können, das die Probleme und Krisen, die sich längst aufgetürmt haben, angehen, geschweige denn lösen könnte.«
    »Klar. Nur dass es keine Probleme gibt.«
    Sie schüttelte den Kopf und fragte mich: »Hast du Manetti überhaupt gelesen?«
    »Noch nicht. Nur auszugsweise. Ich habe versucht herauszufinden, was bei Manetti fehlt, die Manetti-Lücken.«
    »Die Lücken?«
    »Er hat die Jahre 1975 bis 1999 nicht lückenlos abgedeckt. 1986 besteht eine Lücke. Auch später, in den neunziger Jahren, ist er zeitweise abwesend, nicht im aktuellen Diskurs präsent. Nur den Band 11 habe ich noch nicht durchgehen können.«
    »Manetti kann man nicht einfach durchgehen. Man muss sich darein versenken«, beharrte sie.
    »Glaubst du wirklich, dass in der Vergangenheit die Lehren gefunden werden können, die wir für eine neue Zukunft brauchen? Wir gehen davon aus, dass die Vergangenheit umso relevanter ist, je näher sie an der Gegenwart liegt. Die letzten dreißig Jahre scheinen wichtig, was im 11. oder 13. Jahrhundert oder gar im Neolithikum geschah, ist weniger wichtig. Das ist aber nicht so sicher. Warum sollte sich die Geschichte homogen wie ein großer Strom bewegen? Vielleicht gleicht sie eher einem Vulkangebiet, wo je nach Lust und Laune hier oder dort Lava hervorbrechen kann. Plötzlich stehen sich Serben und Albaner wieder 1389auf dem Amselfeld gegenüber, und das im Jahr 1995. Das 21. Jahrhundert lässt sich an wie das 19. Urban II. und Al Hakim stehen sich wieder gegenüber, als Bush und Bin Laden. Lenin wird beerdigt, der letzte Zar heilig gesprochen. Die Leute sind offensichtlich nicht fähig, die zivilisatorische Entwicklung in ihrem Leben zu rekapitulieren und dann sauber weiterzumachen. Wir stehen nicht auf einem Sockel, sondern in einem Karstfeld. Darum können wir diesen schwarzen Schuber genauso gut auf den Kompost werfen und einfach bei null neu beginnen.«
    »Die neuste Traumaforschung deutet in diese Richtung«, gab mir Susanne zögernd recht, »das Aufarbeiten der Vergangenheit ist zwar ein Dogma der Psychotherapie, aber vielleicht richtet es oft nur noch mehr Schaden an.«
    »Ja, wir können jederzeit neu starten, mit einem neuen kulturellen Betriebssystem. Der Ballast der Vergangenheit kann verblüffend leicht abgeworfen werden. Jeder Tag kann der erste sein.«
    »Wir werden wieder wie die Kinder«, lächelte sie.
    »Ja: Lasset die Kinder zu mir kommen. Selig sind die geistig Armen.«
    Das war die gnostische Botschaft. Aber wie gesagt: Ich wollte nicht insistieren.
    Die Wolken wurden dunkler.
    »Ich glaube, wir sollten nun allmählich zum Gutshof aufbrechen«, schlug ich vor.
    »Und trotzdem gibt es einen Fortschritt«, murmelte sie, als wir auf dem Weg zum Parkplatz vor dem
Alten Hecht
waren. Die Gäste waren am Aufbrechen oder hatten sich schon davongemacht. Mehrere Radfahrer schwangen sich auf ihre Fahrräder.
    Als wir auf den Vorplatz des Gutshofs fuhren, stellte ich fest, dass er etwas verloren wirkte. Der Lastwagen war weg. Kein Mensch war zu sehen. Keine Spuren von Aktivität.
    Ich trug Susannes Reisetasche in die Eingangshalle. Niemand empfing uns. Erst nach einigem Hallo-Rufen kam Chantal herangeeilt.
    »Sie müssen Frau Doktor Kallberger sein«, sagte sie atemlos,»herzlich willkommen. Ich war gerade beschäftigt mit den Umzugsvorbereitungen. Wir müssen Inventur machen, mit dem Personal reden, die letzten Tage organisieren. Sie können auswählen, welches Zimmer Sie wollen. Oder möchten Sie zuerst einen Tee?«
    »Susanne. Tee wäre gut.«
    Angesichts der drohenden Wolken wurde der Tee im Wintergarten, bei geöffneten Glastüren, serviert. Es war für vier Personen gedeckt. Eine blonde Bedienstete in schwarzem Kleid und weißer Schürze goss uns köstlichen Darjeeling ein.
    Erst jetzt wurde mir bewusst, dass sich auf dem Gutshof mindestens ein Dutzend Angestellte befanden. Sie hatten nie ein Wort gesagt und sich im Hintergrund gehalten. Eigentlich müsste

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