P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
man sie fragen, wohin die seltsamen Gäste jeweils verschwunden waren.
»Spassiwo, Ludmila«, sagte Chantal, und die junge Frau verschwand wieder im Haus. Unsere Gastgeberin war sichtlich unter Druck. Sie wandte sich an Susanne: »Ich hoffe, du kannst uns helfen herauszufinden, wohin all die Leute verschwunden sind. Ich möchte nämlich auch weg. Theo darf davon natürlich nichts erfahren. Ich will nicht zurück nach Küsnacht.«
Susanne blickte sich suchend um.
»Wir müssen die Bände 11 und 12 von Manettis Notizbüchern nach Hinweisen durchsuchen. Bis jetzt habe ich noch keine Ahnung. Thomas Schneider hat mir jedoch versichert, dass alle Verschwundenen wohlbehalten sind.«
»Er ist abgereist und lässt euch grüßen.«
»Wie wäre es, wenn wir das Personal befragen würden?«, schlug ich vor.
Chantal schüttelte den Kopf. »Die kommen alle aus Russland, sprechen schlecht Deutsch und nur ein bisschen Englisch. Zudem hat man ihnen eingeschärft, nichts zu sagen.«
»Ist ihnen gekündigt worden?«, fragte ich.
»Nein, nein, Semjonow will sie übernehmen. Semjonow ist der russische Geschäftsmann, dem wir das Gut verkauft haben.«
»Vielleicht sind sie nach Russland verschwunden …«, schlug ich vor.
»Auf keinen Fall. Wer möchte schon nach Russland?«
»Vielleicht sind sie gezwungen worden«, meinte Susanne.
»Nein, das würde Elsa nicht tun«, erwiderte Chantal, »sie waren immer in bester Stimmung. Sie wussten, wohin es ging, und freuten sich darauf. Sie sahen wirklich glücklich aus, fast verzaubert. Ich stelle mir eine tropische Insel vor, ein Paradies.«
»Tropische Inseln sind nur bedingt Paradiese«, wandte ich ein.
»Wollen wir ins Paradies?«, fragte Susanne.
»Alle wollen doch ins Paradies«, antwortete Chantal.
»Und wie ist das mit dem Fluchtpunkt einer Wir-Identität?«, provozierte ich.
»Alle zusammen ins Paradies, da hast du deine Wir-Identität«, versetzte Susanne und trank zufrieden ihren Tee.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Manetti, beziehungsweise Elsa, einen solch abgeschmackten Vorschlag machen würde«, insistierte ich, »ich sehe sie eher in einem Ökodorf, einer intentionalen Gemeinschaft, irgendeinem Projekt mit sozialer Bedeutung. Manetti glaubte nicht ans Paradies.«
Schon eher an einen Plural.
»Zuerst schauen wir uns mal seine Notizbücher an«, schlug Susanne vor.
»Ich versuche doch noch etwas aus dem Personal herauszubekommen«, sagte Chantal, »mit Sonja und Pjotr habe ich eine gewisse Beziehung aufgebaut. Natürlich sind sie eingeschüchtert. Aber sie können ja nicht wissen, dass ich auch weg will.«
»Sie müssen es auch nicht erfahren«, meinte Susanne.
»Hast du Angst, sie würden dann mitkommen wollen?«, warf ich ein.
Chantal runzelte die Stirn. »Man kann nie wissen.«
Wir aßen noch ein paar Muffins. Ich verzichtete auf die Leberwurst – ein deutliches Zeichen dafür, dass mein Aufenthalt in Deutschland sich dem Ende zuneigte.
»Auf jeden Fall müssen wir schnell und diskret vorgehen«, betonte Chantal, »in drei oder vier Tagen sollten wir endgültig von hier weg sein. Dann beginnt der Umbau. Semjonow will einen Swimming Pool und eine griechische Säulenhalle zum Bootshaus. Das ganze Areal soll bademantelgerecht werden.«
Der breitgebaute Theo bewegte sich auf uns zu. Er trug ein blaues Polohemd und weiße Leinenhosen. Er begrüßte Susanne zuerst als Frau Doktor, dann begaben sie sich auf Vornamensbasis.
»Na, genießt ihr die letzten Sommertage?«, versetzte er jovial und goss sich Tee ein.
»Wirklich ein schöner Ort hier«, lobte Susanne.
»Leider müssen wir das Anwesen abstoßen. Es ziehen sich schon wieder Wolken über dem Immobilienmarkt zusammen. Wir haben einen guten Käufer aus Berlin gefunden.«
»Semjonow ist aus Berlin?« platzte es mir heraus.
»Alle Russen sind aus Berlin«, gab er ungerührt zurück. Er zerbröselte ein Muffin in eine Untertasse. »Aber lasst euch nicht stören, macht ruhig noch ein paar Ausflüge, bevor wir alle in die Schweiz zurückkehren.«
»Das Personal bleibt da und kümmert sich um eure Bedürfnisse«, ergänzte ihn Chantal.
Wir bedankten uns.
Es donnerte im Westen.
»Wo ist eigentlich Geri?«, fragte ich.
»Er ist mit Douglas und Claire nach London gefahren, lässt dich grüßen«, antwortete Theo.
Das wunderte mich nicht.
Eine erste Bö fegte draußen über die Wiese.
Theo schnalzte mit der Zunge. »Typisches Tagesgangwetter. Am Morgen schön, gegen Abend Gewitter.«
»Die Bilder
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