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P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

Titel: P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
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haben. Es handelt sich nicht um ein fotografisches Faksimile, sondern um eine nachempfundene handschriftähnliche digitale Simulation.
Irgendjemand
kann diesen Text geschrieben haben.«
    Der Gedanke war mir schon ganz am Anfang der Manetti-Manie gekommen. Roberto Manetti war praktischerweise schon zehn Jahre tot, als er veröffentlicht wurde. Niemand konnte ihn mehr fragen. Den Ursprung seiner Handynummer aus dem Jahr 1996 hatten wir noch nicht überprüft, sie konnte auch erst vor zwei Jahren eingefügt worden sein. Thomas, der Ur-Lektor, sollte im Herbst einen Literaturpreis bekommen. Das hatte er mir unter die Nase gerieben. Nicht als Lektor, sondern als Autor! Klar, er verkehrte ganz natürlicherweise in den selben Kreisen.
    »Du meinst«, schloss ich, »wir haben es hier mit einem literarischen Schwindel zu tun, mit einer Art Parodie auf das Genre der Besinnungsliteratur? Dann stellt sich logischerweise die nächste Frage: Hat es einen Roberto Manetti überhaupt gegeben?«
    »Sicher, seine Schwester ist ja eine öffentliche Figur. Es gibt Fotos.«
    »Seine Schwester schon. Gibt es ein Foto von ihr zusammen mit ihrem Bruder?«
    Sie googelte Roberto Manetti. Keine Fotos, nur Hinweise auf die Notizbücher.
    »Versuch einmal seine Dissertation über Hekataios«, schlug ich vor.
    Sie googelte herum. »Roberto Manetti ist definitiv kein Autor von irgendetwas.«
    »Seine Kaffeefirma?«
    »Na ja, es gibt biologischen Kaffee von einem Manetti – aber dieser Eintrag ist zu neu.«
    »All das heißt nicht, dass es Roberto nicht gab«, fuhr ich fort, »wenn ich mich nicht sehr täusche, habe ich ihn wirklich getroffen. Andere bestätigen das. Es heißt nur, dass er oder Elsa seine Spuren perfekt verwischt haben. Und das noch vor Beginn des digitalen Zeitalters im Jahr 2002.«
    Susanne zweifelte. »Ich kann da nicht mitreden. Es gibt jedoch das bekannte psychologische Phänomen der nachträglich geschaffenen Erinnerungen. Ein großer Teil unserer Kindheitserinnerungen fallen in diese Kategorie. Was uns die Eltern über uns erzählen, nehmen wir als unsere Erinnerungen an. Aus bestimmten Resultaten und Zuständen schließt man auf die notwendigerweise vorangegangenen Ereignisse und Erinnerungen. Da du weißt, dass Manetti über gewisse Ereignisse in Zürich geschrieben hat, bei denen du dabei warst, musst du ihn auch dort gesehen haben. Die Lektüre von Manetti schafft den Autor.«
    »Das ist ja alles egal. Ich muss Rita Vischer finden. Die ist real verschwunden. Jemand hat dieses Verschwinden inszeniert, sei es nun Manetti selbst postum, seine Schwester, Thomas, der Verlag. Wir haben einen Text, der Text hat Inhalte und Strukturen – etwas müssen wir herauslesen können.«
    »Jetzt wird mir alles klar!«, rief Susanne aus.
    »Wir haben falsch gelesen. Sowohl du wie ich haben ihn nur überflogen, darin geschmökert, ihn oberflächlich zerpflückt. Wir haben ihn im Dialog zerzaust. Er gibt sein Geheimnis aber nur preis, wenn man ihn in voller Versenkung liest, allein. Man muss in den Text hinein, wenn man sein Geheimnis lüften will. Es geht wirklich nicht um Manetti, sondern darum, Manetti zu
lesen
. Das ist ein Riesenunterschied.«
    »Reine Mystik«, erwiderte ich.
    Gnosis, Mystik – es spielte keine Rolle. Sie würde nicht drauf kommen.
    »Manetti war kein Mystiker. Aber wir müssen es werden, wenn wir ihn verstehen wollen.«
    Ich goss uns je ein Glas vom Plauener Sprudel ein, der auf dem Tisch bereit stand.
    »Also: totale Versenkung«, sagte ich, »was schlägst du vor?«
    »Ein Experiment. Wir schließen uns in unsere Zimmer ein und lesen den 11. und 12. Band ganz allein. In zwei Stunden – das sollte ausreichen – treffen wir uns wieder und erzählen uns, was wir gelesen haben. Die Unterschiede unserer Berichte machen den Hinweis aus. Alle Verschwundenen hatten Kontakt mit anderen Verschwundenen. Sie haben ihre Differenzen ausgetauscht.«
    »Genial«, stimmte ich zu.
    Es war erst fünf Uhr. Um sieben würden wir das Rätsel gelöst haben.
    Ich legte mich also hin. Inzwischen war das Gewitter in einen einschläfernden Landregen übergegangen. Ich nahm Band 11 zur Hand und begann wieder mit der ersten Seite. Die Sätze kannte ich nun schon fast auswendig, aber diese neue, immersive Lesehaltung verwob sie viel intimer, machte sie zu einem Bewusstseinsstrom, zu einer halluzinatorischen Legierung. Manetti – oder wer auch immer diesen Text geschrieben hatte – beherrschte die Kunst der Bewusstseinsfiktion, er sprach

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