Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

Titel: P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren:
Vom Netzwerk:
sind weg«, stellte ich fest.
    »Ja, die sind im Trockenen«, scherzte er, obwohl das Thema ihm sichtlich nicht behagte.
    »Wir haben heute ein paar Fasane zum Abendessen, es würde uns freuen, wenn ihr kommt – so gegen acht Uhr?«
    Und damit stand Chantal auf. Sie nahm die BMW-Schlüsselmit. Theo entfernte sich in eine andere Richtung. Ein beschäftigter Mann.
    Die ersten Hagelkörner fielen wie kleine Bomben auf das Glasdach. Wir genossen das Spektakel noch eine Weile, dann gingen wir hoch zu unseren Räumen. Susanne entschied sich für das übernächste Zimmer westlich von meinem. Später kam sie in meins und brachte Band 11 mit.
    Sie schlug ihn auf und berichtete: »Ich habe ihn schon gelesen und – außer der Nummer natürlich – nichts Auffälliges entdeckt.«
    »Ich kenne ihn auch schon. Jetzt geht es eher um die Lücken.«
    Wir gingen ihn also nochmals durch:
cellphone
, Burnout, die ersten Enttäuschungen nach der Wende, Aufstieg der Taliban, New York, London, Rio, Hongkong. Nichts Neues.
    »Er schreibt viel über den Frühling in New York«, stellte Susanne fest.
    Ich saß auf dem Bett, sie auf dem Sessel. Wir arbeiteten am Text. Wir zitierten, verglichen, spekulierten. Ein kleines Seminar. Nur ging es diesmal nicht darum, den Text als solchen zu verstehen, sondern ihn zu decodieren, um wichtige, praktische Informationen zu bekommen.
    »Im Frühling ist er in New York, das Wetter ist prächtig«, resümierte ich, »aber wie war das Wetter wirklich, so um den 15. April 1996?«
    Susanne starrte mich verblüfft an.
    »Genau«, sagte sie nur und eilte in ihr Zimmer, um ihr Notebook zu holen.
    Da es im Haus WLAN gab und das Passwort auf dem kleinen Schreibtisch bereit lag, war sie sofort im
Tages-Anzeiger
-Archiv und konnte das Wetter in New York kontrollieren.
    »Regen, Regen, Regen, und kalt«, murmelte sie, »Manetti lügt.«
    »Damit mussten wir ja eigentlich rechnen. Manetti, der vertrauenswürdige, empathische Deuter der Zeitläufe, schummelt.«
    »Aber warum? Was will er uns mitteilen?«
    »Dass er woanders war. Er lügt nicht, er will uns auf die Sprünge helfen.«
    »Und wo war er?«
    »Nun ja, schau mal: in der ersten Hälfte des Jahres 1996 stimmt so einiges nicht. In New York war er nicht, aber auch nicht in Zürich. Irgendwann im Frühling wurde das Kunstmuseum Löwenbräuareal eröffnet, da trafen sich alle. Sogar ich war da, obwohl Kunstbanause. Er erwähnt es nicht.«
    »Warum hätte er das denn erwähnen sollen?«
    »Tout Zurich war da. Es war einer dieser Anlässe, die Manetti zu seinen Beobachtungen anregten.«
    »Da war ich noch in Frankfurt. Wir haben also eine Lücke im Frühling 1996. Etwas wird verwischt. Was wohl?«
    »Vielleicht hat Manetti das Verschwinden geübt«, schlug ich vor, »er hat die Fluchtwege ausgekundschaftet, die Fluchtorte vorbereitet, was weiß ich.«
    »Oder er brauchte Auszeiten. Wichtig ist aber, dass wir nun wissen, dass Manetti auch lügen kann. Wer einmal lügt, der kann wieder lügen. Wir müssen mit Lücken und Lügen rechnen.«
    »Für unsere Aufgabe spielt das keine Rolle. Das gilt ja für alle literarischen Texte. Es geht um die Gründe der Lücken und Lügen, die Bedeutung. Lügen sind ja auch eine Form des Verschwindens, des Verschwindens der Wahrheit. Er verdeckt gewisse Dinge, zu unserem Schutz oder zu seinem.«
    Susanne seufzte. Sie hatte immer noch das
Tages-Anzeiger
-Archiv offen und scrollte mit verschiedenen Suchwörtern durch das Jahr 1996.
    »Im Herbst ist er wieder da«, stellte sie nach einer Weile fest, »da gibt es Bezüge zu bestimmten Ereignissen.«
    Die Sache begann mich zu langweilen.
    »Das beweist gar nichts. Manetti kann später selbst das Archiv benutzt haben, die Einträge sind ja nicht datiert.«
    »Mal will er, dass seine Lügen entdeckt werden, mal lügt er so geschickt, dass es nicht auffindbar ist. Was machen wir nun?«
    »Wir suchen nach einem Muster, das auf einen Ort auf diesem Planeten hinweist«, sagte ich, »er gab damals eine Kontaktnummeran. Er wusste schon, dass eines Tages Leser seiner Notizen irgendwohin reisen würden. Er hat alles vorbereitet, Elsa instruiert. Sein Tod kam dazwischen, aber er hatte während seiner Erkrankung genug Zeit, um alles zu arrangieren.«
    Susanne lehnte sich zurück und runzelte ihre runde Stirn.
    »Wir sind Idioten«, sagte sie, »warum glauben wir überhaupt, dass dies Manettis Originaltext ist? Elsa, Thomas, der Verlag können ihn ganz oder teilweise selbst produziert oder modifiziert

Weitere Kostenlose Bücher