P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
zu mir wie ein alter Freund. Er sprach mit mir über unsere gemeinsame Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die es wahrscheinlich in dieser Form nie gegeben hatte. Aber es war interessant, sie zu besuchen, einen Raum nach dem andern, wie in einem Museum. Einmal befand er sich beim Bürkliplatz und fütterte Schwäne. Dann machte er einen Ausflug mit dem alten Dampfschiff, der Goldküste entlang. Er versank in der Betrachtung der stampfenden Dampfmaschine mit ihren mächtigen Stangen aus Stahl und den Ventilen aus poliertem Messing.
20.
Es klopfte an der Tür.
»Cherr Leeman, Abendessen«, verkündete eine Stimme.
Ich musste eingeschlafen sein! Zu dumm. Nun war es acht Uhr. Warum hatte Susanne mich nicht um sieben geweckt?
»Ich komme«, antwortete ich.
Ich war nur bis Seite 52 gekommen. Ich legte die beiden schwarzen Bände zur Seite und wusch mein Gesicht im kleinen Badezimmer.
Irgendetwas stimmte nicht.
Ich verließ mein Zimmer und klopfte bei Susanne – keine Reaktion. Die Tür war nicht geschlossen, ich ging hinein: Das Zimmer war leer, das Bett unangetastet, keine Tasche war da, kein schwarzer Schuber. Nur die Seife und ein Frottiertuch waren gebraucht worden.
Der Vogel war ausgeflogen!
Im Haus war es auffallend still. Ich ging in den Esssaal hinunter. Am langen Tisch war für eine einzige Person gedeckt. Ludmila stand beim Buffet und nickte mir einladend zu.
Ich war diese Person.
Es duftete nach Geflügel, Gemüse und Pilzen.
Ich wandte mich an die schwarz und weiß uniformierte Bedienstete: »Wo sind die andern?«
»Frau Lutz und Frau Doktor mit BMW weg. Cherr Lutz mit Bentley nach. Um sieben Uhr.«
Chantal! Sie hatte etwas gewusst. Oder Susanne hatte den Hinweis auch ohne Leseerlebnisvergleich entdeckt. Und ich war typischerweise eingeschlafen.
»Herr Lutz sucht Frau Lutz?«, fragte ich zur Sicherheit.
»Ja, er sucht.«
»Wann sind Frau Lutz und Frau Doktor losgefahren?«
Sie runzelte ihre Stirn.
»Sechs Uhr.«
Das passte. Sie wollten sicher sein, dass ich bis sieben schön brav in meinem Zimmer blieb und meine immersive Lektüre betrieb. Wahrlich ein geniales Leseexperiment!
»Wohin?«
Sie machte große Augen. »Weiß nicht.«
Klar wusste sie nichts, sonst wäre sie mit verschwunden.
»Suppe«, sagte Ludmila mit einem freundlichen Lächeln auf den dezent rosa geschminkten Lippen.
Der BMW und der Bentley waren weg. Und es hätte keinen Sinn gemacht, im Regen und bei Dunkelheit aufs Geratewohl mit einem andern Wagen loszufahren und mich den überall lauernden Neonazis auszusetzen. Also setzte ich mich hin und löffelte die Steinpilzsuppe.
Damit ich mich nicht so einsam fühlte, hatten sie die Lichter gedimmt und eine Chopin-Etüde auf niedriger Lautstärke als Hintergrundmusik eingeschaltet. Zur Suppe gab es einen edlen Chablis und frisch gebackene Brötchen.
Ich war am Ende. Am Ende der Welt, wie wir sie kannten – mir kam Welzers Buchtitel in den Sinn. Ich bewunderte das Silberbesteck und kostete den strohgelben Wein. Ludmila servierte fast lautlos eine Fischterrine.
Ich genoss die Situation. Allein im Herrenhaus, bedient von perfekt geschultem Personal. Weiße Tischdecke, fünf Rosen in einer Kristallvase, silberner Kerzenständer, Stoffserviette mit eingesticktem GP, ein bisschen Chopin – die polnische Grenze war nicht weit.
Als Zwischengang wurde ein offener Raviolo mit Hasenfleisch und Trüffeln gereicht. Dazu eine Flasche Château Gaillard 2005.
War ich am Ende? Nicht ganz. Mitten in Mecklenburg ist man nicht am Ende. Wo war denn das Ende? Im Osten? Kamtschatka – kaum. Im Norden? Hammerfest. Zu kalt. Im Süden? Peloponnes. Manetti war nie auf der Peloponnes gewesen. Westen? Schon eher. Da gab es Finis Terrae – Finisterre – in der Bretagne. Aber das war noch nicht das Ende. Das Ende, das war in Portugal, in Lissabon!
Lissabon war die westlichste Stadt, die man, ohne ein Flugzeug oder Schiff zu benützen, also ohne digitale Spuren zu hinterlassen, erreichen konnte. Und Lissabon kam im Manetti vor. Allerdings nur ein paar Mal am Rand und nicht als auffälliger Hinweis. In Band 11 schon gar nicht.
Chantal und Susanne waren nicht mit dem BMW nach Lissabonaufgebrochen. Es gab keine besonderen Hinweise in Band 11 oder 12 auf das Ende der Welt, wie wir sie kannten, bevor wir Amerika entdeckten.
Aber ich wollte per Bahn nach Lissabon fahren, einfach um dieser Geschichte ein Ende zu bereiten und um nicht nach Zürich zurückkehren zu müssen und mir Christians Elend
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