P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
anzuschauen. Ich würde ihm einen Brief schreiben, das war sicher. Mehr tun, als ihn zu beruhigen, konnte ich ja nicht.
Chopin begann eine neue Etüde.
Ad finem terrae. Das war wenigstens ein machbares Projekt. Nun kam der Fasan. Er wurde zuerst ganz präsentiert, dann wurden mir Schlegel und Brust auf einem Teller mit Kraut, Sauce und Kartoffelkroketten serviert.
Perfekt!
Ich war schon lange nicht mehr in Lissabon gewesen. Moment! Begannen nicht Manettis Eintragungen mit einer Reflexion über die Nelkenrevolution 1975 in Portugal? Irgendetwas über die Unmöglichkeit, große Veränderungen vorherzusagen. Und heute war Portugal bloß eines der ärmeren Länder der Europäischen Union, dazu noch mit extremen Finanzproblemen belastet. Was damals als Revolution betrachtet wurde, erscheint heute nur noch als Normalisierung, genauso wie die Wende in der DDR. Eine wirkliche Revolution müsste ganz anders aussehen, viel tiefer greifen. Aber was hieß »tief« konkret?
Ludmila brachte mir ein aufgeklapptes Handy.
Theo war am Apparat. Er erklärte mir die Situation. Er war nun in Rostock, immer noch auf der Suche nach seiner Frau und Susanne. Er war ziemlich verzweifelt und ratlos. Ich beruhigte ihn.
»Sie sind bloß verschwunden wie alle andern. Es geht ihnen sicher gut, besser als uns. Frag mich nicht, wohin sie gegangen sind, denn ich habe keine Ahnung. Susanne hat mir nichts gesagt. Sie hat mich einfach sitzen lassen. Wir müssen uns damit abfinden. Die Polizei? Die wird dich nur auslachen!«
Er entschuldigte sich und wünschte mir einen guten Appetit.Ich kündigte meine Abreise für den nächsten Morgen an. Ich aß einen zweiten Fasanenschlegel.
Meine drei Polizisten kamen mir in den Sinn. Was mochten sie treiben? Würden sie bald hier aufkreuzen? Oder waren sie auch verschwunden? Zum Ende der Welt aufgebrochen?
Meine Reise nach Portugal leuchtete mir immer mehr ein. Der Wein trug wohl dazu bei. Der Sommer war hier mehr oder weniger vorbei, aber in Portugal würde es noch schön warm sein. Der Euro hatte einen Rekordtiefstand erreicht. Einen Zug nach Lissabon zu nehmen, war eine typische Fluchtphantasie. Ich erinnerte mich an das Buch von diesem Mercier,
Nachtzug nach Lissabon
, wo ein alter Lehrer plötzlich auf und davon fährt, ein Lateinlehrer noch dazu. Gab es nicht auch von Markus Werner den Roman
Zündels Abgang
, in dem ein Lehrer nach Genua flieht? Flucht ist keine Lösung, aber machbar. Die Züge fahren immer, mit oder ohne Flüchtende. Fahren und Euphorie gehören zusammen, sind vielleicht sogar etymologisch verwandt.
Zum Dessert gab es einen Streuselkuchen mit Walderdbeeren und Vanillecrème.
»Zigarre?«, fragte ich Ludmila.
Sie nickte und zeigte zu einer Tür.
Dahinter verbarg sich eine Bibliothek, die zugleich als Fumoir diente. Hier versank also der Gutsherr in einem der dicken braunen Lederfauteuils, las seinen Goethe und rauchte eine Havanna. Hier vergaß er die Sorgen mit seinen Landarbeitern, die sinkenden Getreidepreise, den Ärger mit der Steuerbehörde. Die Bücher standen alle in verglasten, dunklen Holzschränken und wirkten neu. Waren es Attrappen?
Ich öffnete einen der Schränke und griff hinein: Sir Arthur Conan Doyle,
The Hound of the Baskervilles
. Ein fabrikneuer Kunstlederband, Printed in China. Ich fand Dante, Mark Twain, Shakespeare, Swift, Storm, alles schön durcheinander, alles chinesische Nachdrucke, alle ungelesen. Aber es waren keine Attrappen, es gab keine versteckten Safes. Sherlock Holmes schien mir passend. Der Detektiv desImperiums. Im Humidor fand ich eine gute Cohiba, die Bar bot einige Single Malts.
Ich versank also im Fauteuil, rauchte, trank und folgte Sherlock Holmes’ Spitzfindigkeiten.
Was würde der russische Oligarch mit so einer Bibliothek anfangen? Er konnte ganz beruhigt alles auf den Abfall werfen, es war nur Ramsch. Auch die Schränke und Fauteuils waren neu, nie hatte ein Gutsherr hier absolute Ruhe gesucht. Das Einzige, was echt und gut war, waren die Zigarre und der Whisky.
Und Chopin, der noch leiser dahinsprudelte.
Als ich zu Bett ging, sah ich niemanden.
Pjotr hatte mich nach Güstrow gebracht. Ich hatte noch etwas Zeit, bevor der Zug nach Berlin fuhr. Ich bummelte durch die Stadt und warf den Brief für Christian beim Postamt ein. Die Straßen waren noch nass, ein gewisses Nachlassen des Tourismus war spürbar. Auf dem Computer im Büro des Gutshauses hatte ich meine Reise geplant. Sie würde fast zwei Tage dauern, via Metz, Paris
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