P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
entgegnete David, »eigentlich sind wir im Kunstbereich tätig.«
»Wir sind Künstler«, betonte Joe, »das hier ist kein Boot, sondern eine Installation.«
»Ein Narrenschiff sozusagen«, meinte David.
»Und wohin bringt ihr mich? Nur falls ihr nicht vorhabt, mich über Bord zu werfen …«
Sie zögerten, als ob sie an diese verlockende Möglichkeit noch nicht gedacht hätten. Alma antwortete schließlich, denn offenbar war sie die Leiterin der Operation.
»Du wirst dort hingebracht, wo du immer schon hinwoll-test, genauso wie alle andern. Das Ziel ist klar, aber den Weg darfst du nicht kennen. Wenn du erst da bist, wirst du sehr erleichtert sein. Vorerst segeln wir nach St. Barth, wo wir frische Lebensmittel an Bord nehmen. Dann hängt alles vom Wetter ab, es ist ja gerade Hurrikan-Saison.«
»Und ihr kommt mit zu diesem Ort der großen Erleichterung?«
»Nicht alle«, antwortete wieder Alma, »Joe, Harry und Noemi gehen mit dir, wir andern drei fahren mit der Yacht zurück.«
»Die
Sirena
gehört nach Barbados«, erklärte David.
»Wir segeln unter der Flagge von Barbados«, sagte Joe, der mir eine weitere Portion von seinem Reis aufschöpfte.
»Dann können wir uns ja das Rasieren sparen.«
»Dein Humorzentrum hat offensichtlich nicht sehr gelitten«, lobte mich Joe mit einem lahmen Grinsen auf den Lippen.
»Noch ein Bier, bitte«, sagte ich.
Ich entdeckte den schwarzen Schuber im Büchergestell.
»Wir haben einen blinden Passagier«, bemerkte ich und zeigte auf ihn.
»Jetzt kannst du endlich in Ruhe Manetti lesen«, empfahl mir Alma, die neben mir saß, einen großen Schluck von ihrem Bier nehmend.
Sie hatte deutsch gesprochen. Die andern grinsten nur: wissend? amüsiert? hinterhältig?
»Wir müssen dir endlich die
Sirena
zeigen«, lenkte Sally ab.
Ich aß meinen Reis mit viel Appetit, trank das Bier, wartete auf die nächste Wendung der Konversation. Ich schaute mich um: Es gab eine Bibliothek, einen schwarzen Flachbildschirm, eine Weltkarte, zwei geschlossene Laptops, ein Bild von New York mit intaktem World Trade Center.
Harry war Schreiner, Noemi Agronomin, Alma Kuratorin, Sally Linguistin, David Psychologe – aber was war Joe?
»Was machst du eigentlich im Leben draußen?«, fragte ich also Joe.
»Ich bin Metzger«, antwortete er, »ich töte Tiere, zerlege sie und mache sie für den menschlichen Verzehr bereit. Ich liebe meinen Beruf.«
»Joe ist ein Spezialist für Übergangsrituale«, präzisierte Sally.
»Ich mache auch Würste und Pasteten, ich koche gerne.«
»Kannst du auch koscher schlachten?«, fragte ich.
»Klar, ich habe das Diplom für Koscher und Halal. Das Schächten ist übrigens eine sehr angenehme Tötungsart. Zuerst betäube ich die Tiere – etwa so wie dich –, dann schneide ich die Halsschlagader auf. Das Leben läuft mit dem Blut aus. Das Tier spürt nichts und wacht einfach nie mehr auf. Es ist ein sanfter Übergang.«
»Dann könnte ich jetzt tot sein und würde es gar nicht merken?«
»Genau, das könnte das Jenseits sein. Da draußen ist kein Ozean, sondern das Nichts.« Er grinste zufrieden.
»Wer möchte Eiscreme?«, fragte Alma.
Jede und jeder hatte ihre oder seine Lieblingssorte. Ich wollte Bourbon-Vanille mit in Rum eingelegten Weinbeeren.
Ich hörte das Ächzen des Masts, das Rauschen des Wassers, und hier und da ging ein Ruck durch die Kabine, wenn sie eine Welle nicht schön angeschnitten hatten.
Ich stellte mir vor, dass wir auf einer Insel anlegten und feststellten, dass inzwischen der Kapitalismus untergegangen war, und es keine gültigen Währungen mehr gab.
»Und du möchtest Metzger bleiben?«, fragte ich Joe.
»Ja klar. Ich werde gebraucht. Die Leute wollen Fleisch essen. Aber es muss von Tieren sein, die gut gelebt haben und die angenehm gestorben sind. Ich könnte nie in einer Großmetzgerei arbeiten. Wir brauchen Tiere auf den Bauernhöfen, Pflanzen und Tiere.«
Aus eigener Erfahrung konnte ich bestätigen, dass seine Artzu töten human war. (Die zweite Phase – das Ausbluten – hätte ich sowieso nicht bewusst erlebt.) Ich war mir nur nicht sicher, ob mein Leben so gut gewesen war, dass man mich mit gutem Gewissen essen konnte. Wenn Menschen so schlecht lebten und so brutal starben, dann war eigentlich Kannibalismus völlig out. Abgesehen davon waren Menschen gastronomisch gesehen nichts als Sondermüll – ungenießbar.
Theoretisch konnte ich biologisch tot und in einem anderen Wirklichkeitssetting sein. Es gab keine
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