P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
war so ungewöhnlich still. Die
Sirena
machte keine Fahrt mehr.
Ich stand auf und schaute nach. Es war Abend. Die Yacht lag bewegungslos im fast glatten Meer. Auch alle andern waren nun zum Sonnendeck gekommen.
»Das nennt man eine Flaute«, erklärte der junge Harry.
»Da bewegt sich gar nichts mehr«, fügte Sally hinzu.
Es war schwül.
»Natürlich könnten wir jetzt den Motor anwerfen«, sagte Harry, »aber das wäre eine große Verschwendung von Treibstoff. Zudem haben wir es nicht eilig. Jetzt warten wir mal ab.«
Ich hatte eine grandiose Idee. Aus dem Salon holte ich den schwarzen Schuber mit Manettis Notizbüchern.
»Den werfe ich nun über Bord«, erklärte ich, als ich wieder auf Deck war.
»Ist das nicht schade?«, wandte Sally ein, »möchtest du ihn nicht noch richtig lesen? Vielleicht kannst du ja einiges lernen über die Vergangenheit.«
»Man kann immer lernen«, erwiderte ich, »und es gibt nur die Vergangenheit, aus der man lernen kann. Das Leben ist die Vergangenheit, die sich durch die Zukunft frisst. Ich muss Ballast abwerfen.«
Und damit schmiss ich den schwarzen Würfel ins glatte Meer. Er tauchte zuerst unter, kam dann aber wieder hoch und tanzte schwimmend an der Oberfläche.
Ich blickte die Bande an. Sie grinsten hämisch.
»Bücher schwimmen auf Wasser, besonders in Schubern, wo noch Luft drin ist«, belehrte mich Joe.
»Dann werde ich jetzt hineinspringen und das Ding unters Wasser drücken.«
Ich war schon dabei, mein Polohemd auszuziehen.
Da sagte Joe: »Das würde ich nicht tun, Paul, schau mal.« Er zeigte auf einen langen grauen Schatten, der gerade unter der Reling vorbeiglitt. Weiter draußen sah ich weitere graue Schatten, dazu hier und da eine typische Rückenflosse. Ein Rachen öffnete sich, und der Manetti-Schuber wurde verschluckt.
»Seit wann essen Haie Bücher?«, fragte ich.
»Haie fressen alles. Zudem riechen die Bücher nach Mensch.«
Joe klopfte mir auf die Schulter.
»Ich hoffe, es verdirbt ihm nicht die Verdauung«, sagte ich.
»Ein bisschen Beschwerden wird er schon haben«, erklärte Joe, »aber Karton und Papier lösen sich leicht auf.«
»Dann wünschen wir ihm gute Lektüre«, bemerkte ich.
Die Haie umkreisten noch eine Weile die Yacht, sie hofften auf weitere leckere Happen. Ich blieb an Bord.
Manetti lesen hieß nun Manetti fressen.
Wir benützten die Flaute dazu, das Deck zu reinigen, die Sonnenenergieanlagen zu warten, etwas Wäsche zum Trocknen aufzuhängen. Das Prunkstück des Schiffs war eine extrem kompakte Biogasanlage, die die organischen Abfälle (inklusive derer, die aus dem menschlichen Verdauungstrakt stammten) zu Gas verarbeitete, mit dem man dann entweder direkt kochen oder den Schiffsmotor betreiben konnte. Der lieferte unter anderem Strom für eine kleine Meerwasserentsalzungsanlage.Das Logo auf dem Reaktor lautete Alivicom.
Joe und Harry holten Angelruten hervor. Eine Stunde später hatten sie zwei schöne Bonitos gefangen, die sie dann für uns alle brieten. (Aus den Abfällen erzeugte Alivicom Methan, um damit die nächsten Fische zu braten.)
Es gab an Bord eine Bibliothek von mehreren Hundert papierenen und vielen tausend elektronischen Büchern, Hunderte von Filmen, Symphonien, Opern und jede Menge Rock, Jazz, Pop und World Music. Es konnte einem langweilig werden, musste aber nicht. Man könnte zum Beispiel endlich die Russen lesen. (Alle reden davon, niemand tut es.) Die
Sirena
war eine schwimmende Mediathek.
Die Flaute hätte ohne Probleme endlos sein können, definitiv, nachhaltig. Irgendwann wären die erdölbasierten Schmiermittel ausgegangen.
Ein leichter Regen setzte sein. Die Solarpanele sammelten das Wasser und sparten so die Energie für die Entsalzungsanlage. Egal, welches Wetter wir hatten, es spielte unser Spiel.
Wir schauten uns unsere Lieblings-YouTubes und TED-Talks an. Nick Bostrom gehörte dazu, Serge Latouche, dann auch Ray Kurzweil. Ian Morris’ Buch war an Bord. Ich berichtete von meiner Konversation mit Elsa.
Ich fragte die andern: »Die Geschichte der Menschheit ist zu Ende, was machen wir nun?«
Sally meinte seufzend: »Wir sind müde, wir ruhen uns aus. Die Evolution, die Vorgeschichte, die Urgeschichte, die Geschichte, das ist alles sehr traumatisch und anstrengend verlaufen. Wir haben unseren Job getan.«
Joe war unbekümmert: »Wir pflegen die Qualität, wir leben und töten sorgfältiger.«
»Wir rauchen nur noch die besten Zigarren«, unterstützte ich ihn.
Noemi wandte ein:
Weitere Kostenlose Bücher