P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
drückte mir ein Glas Kir Royal in die Hand.
Margrit Limacher und eine ganze Reihe von verschwundenen LeserInnen begrüßten mich. Es waren sicher zweihundert Personen da.
Elsa umarmte mich: »Wir feiern die Ankunft des letzten Verschwundenen.«
»Und das bin ich.«
»Ja, von jetzt an wird alles wieder normal.«
»Sind das alles Verschwundene?«, fragte ich.
»Die meisten«, antwortete sie, »einige sind schon wieder abgereist.«
»Das heißt, die Verschwundenen kehren ab jetzt zurück?«
»Ja, auf diesem Planeten kann man nicht wirklich verschwinden.«
Elsa bugsierte mich zu einem großen Buffet, wo ich auf einen verlegen grinsenden Thomas Schneider stieß, der an einem Fleischkrapfen knabberte.
»Du solltest dich schämen«, sagte ich.
»Na ja, du warst ein schwieriger Fall. Nicht gerade der ideale Leser.«
»Ich habe dein Machwerk ins karibische Meer geworfen. Ein Hai hat es verschluckt.«
»Sehr gut, sehr gut. Ich werde diese Episode bei der Verleihung des Literaturpreises erwähnen.«
»Den hast du nun ja doch verdient.«
»Warum, bleibt unser Geheimnis.«
»Von mir aus.«
Ich musste weitere Manetti-LeserInnen begrüßen. Viele Einheimische waren da, die neuen Freunde der LeserInnen. AltBundesrat Merz, in einem weißen Anzug, strahlend, sonnengebräunt, diskutierte angeregt mit Elsa. Susanne und Chantal hingen an Harald Welzers Lippen. Ich sichtete Gian Trepp, den Chefökonomen.
»Ich hätte nie gedacht, dass du so etwas liest«, sagte ich zu ihm.
»Tomi hat es mir aufgeschwatzt, den Rest kannst du dir denken.«
»Und?«
»Das hier ist hochinteressant. Es wird dir gefallen. Müssten wir in der Schweiz auch machen. Aber momentan sehe ich schwarz, denn die Banken haben alles noch im Würgegriff.«
»Ich weiß noch gar nicht, was
das hier
ist.«
»Keine Angst, Roberto wird dir alles zeigen.«
Ich nahm mir ein Schinkenbrötchen und suchte Rita Vischer. Bis ich zu ihr durchkam, musste ich noch ein Dutzend halbwegs bekannte Personen begrüßen, mit ihnen anstoßen und passende Bemerkungen machen.
Ich entdeckte Rita Vischer unter dem großen Zentralbaum. Roberto Manetti fing mich jedoch ab, legte seinen Arm um meine Schulter und hob zu einer kleinen Ansprache an. Doch vorher fragte er mich flüsternd: »Ist es recht, wenn ich dich
nicht
Hyazinth nenne?«
Ich nickte, und er sprach (auf Englisch): »Liebe Freunde. Heute ist ein ganz besonderer Tag. Unser letzter Gast, Paul …«
An dieser Stelle hörte man von weiter hinten ein deutliches: »Hyazinth!«
Es war natürlich Gerda Ax.
»… Paul ist angekommen.«
Applaus. Freundliche Gesichter. Ich war angekommen.
»Paul hatte ein bisschen Mühe, uns zu finden.«
Gelächter. Die Polizisten.
»Aber er hat nicht locker gelassen. Durch drei Kontinente ist er gezogen, aber nun ist er hier, und das freut uns ganz besonders.«
Wieder Applaus.
»Mit Pauls Ankunft ist ein Lieblingsprojekt von mir abgeschlossen. Das heißt, es war kein Projekt, wie viele andere hier in Alívio, es war mir schlicht ein Anliegen. Paul gehört zu jener Generation, die sich mit großem Schwung, mit großen Hoffnungen und mit wissenschaftlichem Ernst vorgenommen hatte, die Welt zu verändern. Wie wir alle wissen: Es ist ihnen nicht gelungen. Sie haben alles Mögliche probiert: Arbeiteragitation, Volksinitiativen, Parteien, Hausbesetzungen, Genossenschaften, kulturelle Aktionen. Die Enttäuschungen waren groß, Niederlage folgte auf Niederlage, der Lauf der Dinge ließ sich nicht bezwingen. Das alte, böse kapitalistische Land, wie die Schweiz es ist, wollte sich einfach nicht bewegen. Zum Schaden kam der Spott: Man nannte sie ewige Weltverbesserer, Kindsköpfe, Naivlinge, Träumer, Utopisten. Doch ihr gabt nicht auf, ihr habt immer weitergemacht, immer wieder neue Ideen und Projekte lanciert. Elsa und ich gehörten nicht wirklich zu euch. Aber wir haben euch beobachtet, begleitet, versucht, etwas beizutragen. Schon bald habe ich eingesehen, dass meine Energien und Ressourcen hier in Brasilien wirksamer eingesetzt werden konnten als im verhockten Europa. Sicher, der Zufall spielte mit. Als Kaffeehändler – und das ist es, was ich bin – kam ich überall auf der Welt herum, sah ich Möglichkeiten, Spielräume, Chancen. Schon seit den späten siebziger Jahren habe ich begonnen, hier in Alívio zu investieren. Zuerst waren es einige bescheidene landwirtschaftliche Unternehmen, dann kam Ökotechnologie dazu, Verarbeitung, Ausbildung, all das, was Alívio ausmacht. Ich war
Weitere Kostenlose Bücher