Poirot Rechnet ab
beauftragte seinen Neffen, der seit vielen Jahren bei der Bank einen Vertrauensposten innehat und der mit allen Details der Bankgeschäfte in New York vertraut war, mit dem Transport der Aktien. Die Olympia fuhr am Dreiundzwanzigsten von Liverpool ab, und die Staatsanleihen wurden Philip am Morgen dieses Tages durch Mr Vavasour und Mr Shaw übergeben. Sie wurden abgezählt, in ein Paket verpackt und in seiner Gegenwart versiegelt. Danach schloss er das Paket sofort in seinen Koffer ein.«
»Ein Koffer mit einem gewöhnlichen Schloss?«
»Nein, Mr Shaw, der andere Generaldirektor der London and Sco t tish Bank, bestand darauf, dass ein Spezialschloss der Firma Hubbs angebracht wurde. Philip, wie ich schon sagte, legte das Paket unten in seinen Koffer. Wie Sie wissen, wurde es noch vor der Ankunft der Olympia in New York gestohlen. Das ganze Schiff wurde systematisch und genau, aber erfolglos durchsucht. Die Papiere hatten sich scheinbar in Luft aufgelöst.«
Poirot machte eine Grimasse.
»Wohl nicht ganz, denn wie ich gehört habe, wurden sie in kleinen Paketen innerhalb einer halben Stunde nach Ankunft der Olympia bereits verkauft. Als Erstes müsste ich mit Mr Ridgeway sprechen.«
»Ich wollte gerade vorschlagen, mit mir im Cheshire Cheese zu lunchen. Philip erwartet mich dort, aber er weiß nicht, dass ich Sie seinetwegen um Rat gefragt habe.«
Wir waren mit ihrem Vorschlag einverstanden und fuhren mit einem Taxi hin.
Mr Philip Ridgeway war schon dort und sah einigermaßen überrascht aus, als seine Braut mit zwei fremden Männern ankam. Er war ein großer, nett aussehender junger Mann, mit leicht ergrauten Schläfen, obwohl er nicht viel über dreißig Jahre alt sein konnte. Miss Farquhar ging auf ihn zu und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Verzeih mir, Philip, ich habe ein bisschen eigenmächtig gehandelt. Darf ich vorstellen: Das ist Mr Hercule Poirot, von dem du schon oft gehört haben musst, und sein Freund, Captain Hastings.«
Ridgeway machte ein erstauntes Gesicht.
»Natürlich habe ich schon von Ihnen gehört, Mr Poirot!«, sagte er, als wir uns begrüßten. »Aber ich wusste nicht, dass Esmée auf die Idee kommen könnte, Sie wegen unserer Sorgen um Rat zu fragen.«
»Ich fürchtete, du hättest es nicht zugelassen, Philip«, sagte Miss Farquhar leise.
»Ich wünsche sehr«, bemerkte Ridgeway mit einem Lächeln, »Mr Poirot wird in der Lage sein, etwas Licht in diese undurchsichtige Angelegenheit zu bringen. Ich verliere bald den Verstand.« Sein Gesicht sah tatsächlich verhärmt und schmal aus und ließ deutlich den seelischen Druck, unter dem er lebte, erkennen.
»Nun, lassen Sie uns erst einmal essen, und nach dem Lunch wollen wir unsere Köpfe zusammenstecken und sehen, was wir tun können. Ich möchte die ganze Geschichte von Mr Ridgeway selbst hören«, sagte Poirot.
Während des ausgezeichneten Steaks und des nicht weniger trefflichen Nierenpuddings erzählte Philip Ridgeway die näheren Begleitumstände des Diebstahls. Seine Erzählung stand im völligen Einklang mit dem Bericht, den uns Miss Farquhar schon gegeben hatte. Als er geendet hatte, stellte Poirot seine erste Frage.
»Und wie entdeckten Sie den Diebstahl, Mr Ridgeway?«
Er lachte bitter.
»Das konnte man gar nicht übersehen, Mr Poirot. Mein Kabinenkoffer war halb unter meinem Bett hervorgezogen und zerkratzt und beschädigt, da man versucht hatte, das Schloss mit Gewalt aufzubrechen.«
»Ach – ich hatte verstanden, der Koffer wäre mit einem Schlüssel geöffnet worden?«
»Das stimmt. Zuerst hat man versucht, das Schloss aufzubrechen, aber das misslang wohl. Schließlich brachte der Dieb es auf irgendeine Art und Weise fertig, aufzuschließen.«
»Merkwürdig!«, sagte Poirot, und seine Augen begannen grün zu glitzern. Ich kannte dieses Glitzern ganz genau. »Sehr merkwürdig! Da verschwendet man so viel Zeit, um das Schloss aufzubrechen, und dann – sapristi – fällt einem plötzlich ein, dass man ja einen Schlüssel hat. Aber von Hubbs’ Schlössern gibt es doch keine Duplikate!«
»Das ist es ja gerade! Der Dieb konnte keinen Schlüssel haben. Ich hatte ihn Tag und Nacht bei mir.«
»Sind Sie ganz sicher?«
»Das kann ich beschwören! Ich frage mich nun auch, warum man so viel Zeit mit dem Versuch verschwendet, ein doch offensichtlich unbezwingbares Schloss aufzubrechen, wenn man ein Duplikat des Schlüssels oder den Schlüssel selbst hatte.«
»O ja, diese Frage ist wichtig; deswegen habe ich sie ja
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