Poirots erste Fälle
langsam z u sammen hinaus.
»Etwas seltsam, das Ganze«, bemerkte der junge Mann. »Es würde vielleicht Monsieur Poirot interessi e ren. Ich habe nämlich von Ihnen gehört, Monsieur Po i rot – und zwar durch Higginson.« (Higginson war unser Freund, das hohe Tier aus dem Kriegsministerium.) »Er behau p tet, Sie seien auf dem Gebiete der Psych o logie geradezu ein Phänomen.«
»Ich befasse mich allerdings etwas mit Psychologie«, gab mein Freund vorsichtig zu.
»Haben Sie das Gesicht meines Vetters beobachtet? Die Nac h richt hat ihn doch geradezu umgeworfen, nicht wahr? Und wissen Sie, warum? Weil ein richtiger altmod i scher Familienfluch auf den Lemesuriers lastet. Intere s siert Sie das?«
»Sehr liebenswürdig von Ihnen, wenn Sie mir davon e r zählen wo l len.«
Roger Lemesurier blickte auf seine Uhr.
»Noch sehr viel Zeit. Ich treffe meine Verwandten am Bahnhof King’s Cross. Die Lemesuriers sind eine alte Familie, Monsieur Po i rot. Im Mittelalter überraschte ein Lemesurier seine Frau in einer ve r fänglichen Situation, die seinen Verdacht gegen sie erregte. Sie b e schwor ihre Unschuld. Aber der alte Baron Hugo hörte nicht auf sie. Sie hatte ein Kind, einen Sohn, und der Baron schwor, der Junge sei nicht sein Kind und solle ihn niemals bee r ben. Ich weiß nicht mehr, was dann passierte. Wah r scheinlich hatte er eine jener neckischen mi t telalterlichen Ideen und mauerte Mutter und Sohn lebendig ein. Jede n falls brachte er sie alle beide um. Sterbend beteuerte seine Frau ihre Unschuld und verfluchte feierlichst die Lemes u riers bis in alle Ewigkeit. Kein erstgebor e ner Sohn eines Lemesurier sollte je sein Erbe antreten – so lautete der Fluch. Nach geraumer Zeit wurde die Unschuld der D a me einwandfrei bewiesen. Hugo zog sich daraufhin ein Büßerhemd an und beendete seine Tage auf den Knien in einer Mönchszelle. Merkwürdig aber ist, dass bis auf den heutigen Tag kein Erstgeborener je den Familienbesitz übernommen hat. G e erbt haben stets Brüder, Neffen, zweite Söhne – niemals aber der Älteste. Vincents V a ter war der Zweite von fünf Söhnen; der älteste starb als Kind. Durch den ganzen Krieg hindurch war Vi n cent natürlich felse n fest davon überzeugt, dass er nicht lebend aus dem Schlamassel herauskommen würde. Merkwürd i gerweise fielen jedoch seine beiden jüng e ren Brüder, während er selbst mit heiler Haut davo n kam.«
»Eine interessante Familiengeschichte«, sagte Poirot nachden k lich. »Aber jetzt liegt sein Vater im Sterben, und er als der älteste Sohn erbt doch, nicht wahr?«
»Stimmt. Der Fluch ist anscheinend rostig geworden, ist wohl den zersetzenden Einflüssen des modernen Lebens nicht gewac h sen.«
Poirot gefiel der scherzende Ton des anderen nicht, und er schüttelte missbilligend den Kopf. Roger Lemes u rier blickte wi e der auf die Uhr und erklärte, er müsse sich nun beeilen.
Damit war aber die Geschichte keineswegs zu Ende. Am nächsten Morgen erreichte uns die Nachricht von Vi n cent Lemesuriers tragischem Tod. Er war mit dem scho t tischen Express nach No r den gereist und muss in der Nacht die Abteiltür geöffnet haben und hinausgespru n gen sein. Man nahm an, dass der Schock über den Tod seines Vaters und eine im Kriege erlittene Nervenerschü t terung eine zeitweilige geistige Umnachtung veru r sacht hatten. Der seltsame in der Familie herrschende Abe r glaube wurde auch erwähnt – in Verbindung mit dem neuen Erben, dem Bruder seines Vaters, Ronald Lemes u rier, de s sen einziger Sohn im Krieg gefallen war.
Unser zufälliges Zusammentreffen mit dem jungen Vincent am let z ten Abend seines Lebens musste wohl unser Interesse an allen Ereignissen in der Familie Lem e surier geschärft haben; denn zwei Jahre später lasen wir mit ziemlicher Anteilnahme die Nachricht vom Tode Ronald Lemesuriers, der bereits vor dem Antritt des F a milienerbes immer gekränkelt hatte. Erbe wurde sein Bruder John, ein gesunder, rüstiger Mann, der einen Ju n gen in Eton ha t te.
Ganz gewiss warf ein böses Geschick seine dunklen Schatten über die Lemesuriers; denn schon in den näch s ten Ferien brachte es dieser Junge fertig, sich mit einer Jagdflinte tödlich zu verle t zen. Dann starb sein Vater ganz plötzlich an den Folgen eines We s penstiches, und damit gelangte der Besitz in die Hände des jüngsten der fünf Brüder – Hugo, den wir ja an jenem verhängnisvo l len Abend im Carlton getro f fen hatten.
Wir hatten die zahlreichen
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