Poirots erste Fälle
Beweiskette gegen den Mörder vollständig machte.
Ich bat Mademoiselle Mesnard um eine Unterredung. Sie kam sofort und ich fragte sie nach Saint Alards Adre s se. Virginie sah plötzlich bekümmert aus.
›Wozu brauchen Sie sie, Monsieur?‹
›Ich muss sie haben, Mademoiselle.‹
Sie schien zu zweifeln, war beunruhigt.
›Er kann Ihnen gar nichts sagen. Die Gedanken di e ses Mannes sind nicht von dieser Welt. Er merkt kaum, was um ihn herum vorgeht.‹
›Möglich, Mademoiselle. Trotzdem war er ein alter Freund von Déroulard. Es ist durchaus möglich, dass er mir eine Menge erzählen kann – Dinge aus der Verga n genheit, alte Zwistigkeiten, alte Liebesgeschic h ten.‹
Virginie errötete und biss sich auf die Unterlippe. ›Wie Sie wünschen, aber – aber – ich bin jetzt übe r zeugt, dass ich mich geirrt habe. Es war sehr freun d lich von Ihnen, meiner Bitte nachz u kommen, doch ich war so aufgeregt und mit den Nerven am Ende. Ich sehe jetzt, dass es kein Rätsel gibt, das gelöst werden müsste. Geben Sie auf, ich bitte Sie, Monsieur!‹
Ich sah sie sehr eindringlich an.
›Mademoiselle‹, sagte ich, ›es ist für einen Hund manchmal sehr schwer, eine Spur aufzunehmen, doch hat er sie einmal gefunden, kann nichts auf der Welt ihn d a von abbringen. Das heißt, wenn er ein guter Hund ist. Und ich, Mademoiselle, ich, Hercule Poirot, bin ein sehr guter Hund.‹
Wortlos wandte sie sich ab. Ein paar Minuten später brachte sie mir einen Zettel mit der Adresse. Ich ve r ließ das Haus. Draußen wartete François auf mich. Er sah mich besorgt an.
›Gibt es nichts Neues, Monsieur?‹
›Noch nicht, mein Freund.‹
›Der arme Monsieur Déroulard!‹ Er seufzte. ›Ich hatte dieselbe Überzeugung wie er, habe für Priester auch nichts übrig. Das würde ich im Haus natürlich nie sagen. Die Frauen sind alle r e ligiös – was vielleicht gar nicht so schlecht ist. Madame est très pieuse und Mademoiselle Vi r ginie ebe n falls.‹
Mademoiselle Virginie? War sie wirklich très pieuse? Wenn ich an das verweinte, leidenschaftliche Gesicht dachte, mit dem sie am ersten Tag zu mir gekommen war, überfielen mich Zweifel.
Sobald ich Saint Alards Adresse hatte, vergeudete ich keine Zeit mehr. Ich reiste in die Ardennen, wo ich mich in der Nähe seines Schlosses ein paar Tage au f hielt, bevor ich mir unter einem Vorwand Zutritt ve r schaffte. Als Installateur, stellen Sie sich das vor, mon ami! Es dauerte nur eine Sekunde, die Gasleitung in seinem Schlafzimmer ein bisschen undicht zu machen. Dann ging ich wieder, angeblich um mein Werkzeug zu holen, kam jedoch zu einer Zeit zurück, in der ich, wie ich wusste, das Feld so ziemlich für mich allein haben würde. Was ich eigentlich suchte, wusste ich selbst kaum. Das Einzige, was mir e t was genützt hätte, wü r de ich bestimmt nicht finden. Er hätte nie riskiert, das Fläschchen au f zuheben. Als ich über dem Waschtisch ein kleines Schränkchen entdeckte, konnte ich aber trotzdem nicht wide r stehen und blickte hinein. Das Schloss ließ sich leicht öffnen, die Tür schwang auf. Im Schränkchen standen lauter alte Fl a schen. Meine Hand zitterte, als ich eine nach der andern herausnahm. Plötzlich schrie ich laut auf. Überlegen Sie ei n mal, mein Freund, wie mir zu Mute war: Ich hielt ein Fläschchen mit dem Etikett einer englischen Apotheke in der Hand. Auf dem Etikett stand: ›Trinitrin-Tabletten. Eine Tablette nach Bedarf. Für Mr John Wilson.‹
Ich unterdrückte meine Erregung, schloss das Schrän k chen, steckte die Flasche in die Tasche und reparierte die undichte Stelle in der Ga s leitung. Dann verließ ich das Schloss und fuhr mit dem nächsten Zug nachhause. Spät nachts traf ich in Brüssel ein. Am nächsten Morgen war ich gerade dabei, den Bericht für den Polizeipräsidenten zu schreiben, als man mir eine Nachricht brachte. Sie stammte von der alten Madame Déroulard und en t hielt die Aufforderung, sofort in das Haus in der Avenue Louise zu kommen.
François öffnete mir.
›Die Baronin erwartet Sie.‹
Er führte mich in ihre Räume. Sie saß in einem gr o ßen Lehnsessel und machte auf mich einen sehr erregten Ei n druck. Mademo i selle Virginie war nicht zu sehen.
Monsieur Poirot, sagte die alte Dame, ›ich habe eben e r fahren, dass Sie nicht sind, was Sie vorgeben. Sie sind Polizeibeamter.‹
›Das ist zutreffend, Madame.‹
›Sie sind hergekommen, um die Umstände näher zu u n tersuchen, u n ter denen mein Sohn
Weitere Kostenlose Bücher