Poison (German Edition)
Nacken lege, meine Augen schließe, meine Arme mitten auf dem Gehweg willkommenheißend ausbreite.
Doch es bleibt nicht bei dem leichten Schauer. Der heftige Wolkenbruch, der sich entwickelt, lässt mich meine Augen wieder aufreißen, denn in Nullkommanichts bin ich total durchnässt, und ich beginne zu rennen, Schutz vor dem Regen zu suchen. Verdammt, meine Wohnung ist natürlich viel zu weit entfernt, aber ein paar Meter die Straße hinab, auf der anderen Straßenseite, ist eine Buchhandlung, deren Türen weit geöffnet sind – meine Rettung.
Ich hechte unter das Vordach, auf dem in großen Lettern »Bücher-Scherber« steht, stoppe dort, kämme mit meinen Fingern die nassen Haarsträhnen aus meinem Gesicht, wische mir den Regen von meinen Armen und meinem Kopf, und schlendere dann in den ziemlich vollen Laden, in der Hoffnung, kein Aufsehen zu erregen.
Was ist denn hier los? Sonst ist doch auch nie so ein Massenandrang, wenn ich ab und an zum Stöbern nach interessanten Büchern herkomme. Meist interessieren mich die Remittenden, und ich habe schon so manches gute Buch hier für ein paar Euro bekommen. Überall sind diese »Reduziert«-Schilder, und ein großes Plakat mitten im Verkaufsraum verkündet »Bücherflohmarkt« ... ah, Studententag. Kein Wunder, dass es hier so voll ist, was nicht gerade mein Fall ist, aber okay. Wenn ich schon mal hier bin, kann ich mich genauso gut umsehen, und wenn ich was finde, legen die Mädels, die hier an der Kasse arbeiten und die mich zumindest vom Sehen her kennen müssten, mir meinen Fund bestimmt zurück, bis ich zu Hause war und Geld geholt habe, denn ich habe mein Portemonnaie nicht dabei, nur ein paar Münzen und einen Zehner. Naja, wenigstens ist es hier trocken, im Gegensatz zu draußen, wo der Regen immer noch hörbar auf den Asphalt und auf das Vordach prasselt. Ich schlendere also eher ziellos an den vorderen Angeboten entlang, die mit »Dies und das« gekennzeichnet sind und wo sich ab und an etwas Interessantes finden lässt ... diesmal allerdings nicht –, um mich dann langsam zu den nach Sparten sortierten Regalwänden im hinteren Bereich vorzuarbeiten, wo mich natürlich nicht alles interessiert ... wer braucht schon Dinge wie Feminismus, Spiritualität, Esoterik – die Themen, vor denen sich meist junge oder junggebliebene Mütter mit Kind drängeln, die wahrscheinlich nur ein- oder zweimal im Jahr hier reinkommen ... nämlich zum Bücherflohmarkt.
Nein, das ist wirklich nicht das, was ich suche ... und auch nicht das, was ich brauche, weswegen ich mich lieber nach Dingen umsehe, die ich wirklich brauche. Interessante Bücher, meine ich, wirtschaftswissenschaftliche Bücher, Karriereratgeber und so. Ich will gerade um die Ecke in Richtung »Wirtschaft« gehen, als ich wie vom Donner gerührt stehen bleibe, ganz so, als wäre ich gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Statt der erwarteten »Dinge, die ich wirklich brauche« – wie mir mein Sarkasmus gerade in Erinnerung ruft – sehe ich ... IHN. Das darf doch nicht wahr sein, oder? Wieso jetzt, wieso ausgerechnet jetzt, wo ich ihn gerade vergessen hatte... uhm... erfolgreich verdrängt trifft’s wohl besser.
Ich bin so perplex, dass ich völlig unfähig bin, mich von der Stelle zu bewegen, auf der ich stehe. Dabei beobachte ich ihn, wie er vor den beiden Regalen hin- und herläuft, auf denen »Physik« steht, zwei Bücher unter dem rechten Arm, eins über Raumfahrt aufgeschlagen in der Hand haltend, in dem er scheinbar konzentriert blättert. Er ist faszinierend, seine Bewegungen sind rund, ohne Unregelmäßigkeiten, und sein Anblick fesselt mich, zwingt mich, wie eine Salzsäule zu verharren und ihn weiter zu mustern, zwanghaft, ihn nicht aus den Augen lassen könnend. Er blättert und blättert, schaut kurz auf den Boden und dann hoch, ziemlich genau in meine Richtung, was für mich völlig überraschend kommt. Sein Blick löst meine Erstarrung, und ich beuge mich dieser Erkenntnis – meine Beine tragen mich wie von selbst hinter einen hohen, breiten Auslagenständer. Nicht, dass ich irgendetwas dagegen hätte unternehmen können. Oh, mein Verhalten ist so blöde ... und was hat ER damit zu tun? Wetten, dass er schuld daran ist? Und meine Verwirrung? Und wie ich aussehe! Wie ein Nöck, mein grünes T-Shirt klebt an meinem Körper, als wäre es meine Haut, man kann fast hindurchsehen und jeden Muskel, jede Sehne meines Oberkörpers darunter erahnen. Meine blaue Hose hat eher die Form eines
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