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Polar Star

Polar Star

Titel: Polar Star Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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gern sehen, wie Sie in Wladiwostok von Bord gehen und unten von der Grenzpolizei in Empfang genommen werden.«
    Lidia Taratuta goß Arkadi ein Glas Dessertwein ein. Die Frau, der die Offiziersmesse unterstand, hatte Anspruch auf eine Zweibettkabine, aber Lidia schien die ihre ganz für sich allein zu haben. Rot war offenbar ihre Lieblingsfarbe. Ein rostbraun geflammter Perserteppich mit kunstvoll verschlungenen Mustern hing wie ein riesiger Schmetterling an der Wand. Auf dem Tisch standen rote Kerzen in Messinghaltern. Am Fußende der Koje lehnte ein Paar Filzstiefel. Die Atmosphäre in der Kabine ließ an eine Schauspielerin oder an eine Soubrette denken, deren Sinnlichkeit im Alter in Wollust umgeschlagen war. Lidias hennagefärbtes Haar wirkte eine Spur zu üppig, genau wie ihre vollen Lippen. Ein Bernsteinanhänger schmiegte sich in den Ausschnitt ihrer halb aufgeknöpften Bluse - das Dekollete wirkte ein bißchen frivol, zugleich aber auch natürlich, so als wären die Knöpfe von selbst aufgegangen. Ein Kapitän der sowjetischen Fischereiflotte konnte nicht wählerisch sein - das Schiff, seine Offiziere, die Mannschaft, alles wurde ihm zugeteilt -, mit einer Ausnahme: seiner Bufettschitsa, Martschuk hatte diesen kleinen Entscheidungsspielraum anscheinend gut genutzt.
    »Sie möchten also wissen, mit welchen Offizieren Sina geschlafen hat? Sie halten sie für eine Nutte? Wer gibt Ihnen das Recht, so über sie zu urteilen? Es ist gut, daß Natascha Ihnen zur Hand geht, denn wie ich sehe, verstehen Sie die Frauen nicht. Mag sein, daß Sie in Moskau mit Huren zu tun hatten. Ich kenne Moskau nicht. War nur einmal als Gewerkschaftsvertreterin auf einer Kundgebung. Im übrigen haben Sie wohl keine Ahnung, wie das Leben auf einem Schiff wie diesem hier aussieht. Also was ist schlimmer? Daß Sie die Frauen nicht verstehen oder daß Sie dieses Schiff nicht kennen? Nun, vielleicht werden Sie nie wieder auf einem Schiff fahren wollen. Noch einen Schluck Wein?«
    Da Natascha sich für den Fall, daß Arkadi sich zu verabschieden gedachte, vor der Tür postiert hatte, ließ er sich noch einmal einschenken. Er hätte ohne weiteres zugegeben, daß er die Frauen nicht verstand. Vor allem konnte er sich nicht vorstellen, warum Natascha ihn hierhergebracht hatte.
    »Er kann das Schiff nicht verlassen«, sagte Natascha. »Er ist zwar Ermittlungsbeamter, aber er steckt in Schwierigkeiten.«
    »Also ein Mann mit Vergangenheit?« fragte Lidia.
    »Vorübergehende politische Unzuverlässigkeit«, präzisierte Arkadi.
    »Das klingt wie ein Schnupfen, aber nicht wie eine Vergangenheit. Ach ja, ihr Männer habt eben keine Vergangenheit. Ein Mann läßt sich treiben, wie ein welkes Blatt im Wind. Wir Frauen sind es, die mit der Vergangenheit leben. Ich jedenfalls habe eine.« Lidias Blick schweifte hinüber zum Schrank, auf dem ein gerahmtes Foto von zwei kleinen Mädchen stand, die wie ein Kakadupärchen zusammen auf einem Stuhl saßen; sie trugen weiße Kleidchen und hatten weiße Schleifen im Haar. »Das ist sie, meine Vergangenheit.«
    »Wo ist der Vater?« erkundigte sich Arkadi, bemüht, höflich zu erscheinen.
    »Was für eine gute Frage! Den habe ich nicht mehr gesehen, seit er mich damals, als ich im sechsten Monat schwanger war, die Treppe hinunterstieß. Tja, und nun habe ich zwei Töchter in einem Heim in Magadan. Dort kommen eine Krankenschwester und eine Betreuerin auf dreißig Kinder. Die Schwester ist eine alte Frau und hat die Schwindsucht, die Betreuerin klaut. Von solchen Leuten werden nun meine beiden Engelchen erzogen. Den ganzen Winter über haben sie Husten. Aber diese Frauen verdienen nur lumpige neunzig Rubel im Monat, da müssen sie einfach stehlen, also schicke ich ihnen jedesmal, wenn wir in einen Hafen kommen, etwas extra, um sicherzugehen, daß meine Töchter nicht verhungern oder an Lungenentzündung sterben, bevor ich sie wiedersehe. Ich danke Gott, daß ich zur See fahren und für sie Geld verdienen kann, aber wenn mir ihr Vater je wieder über den Weg laufen sollte, dann hacke ich ihm den Pimmel ab und geh damit angeln. Er kann ja hinterhertauchen. Oder, Natascha?«
    Ein Kichern drang wie eine Seifenblase aus Nataschas Mund, doch schon hatte sie sich wieder gefangen und blickte Arkadi ernsthaft an. »Sei vorsichtig, Lidia, er kann Gedanken lesen.«
    »Aber nicht doch!« sagte Arkadi. »Glauben Sie mir, ich kann mich nicht erinnern, wann mich eine Situation je so verwirrt hätte wie diese.«
    Lidia strich

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