Polarfieber (German Edition)
und ihn mitriss.
Am zweiten Tag seines Arrests hatte der schmierige Kerl ihm das Handy zurückgegeben. Sämtliche Nummern im Kartenspeicher waren gelöscht. Silas kannte Kayas Nummer nicht auswendig. Er hätte die Rezeption anrufen und sich danach erkundigen können, aber was sollte er Kaya denn sagen? Außerdem entdeckte er einen kleinen Kratzer auf der Rückseite des Gehäuses. Diese Mistkerle hatten sein Handy aufgeschraubt und mit Sicherheit eine Wanze hineingesteckt. Er würde ihnen nicht den Gefallen erweisen, damit zu telefonieren. Er hatte nichts zu verbergen, aber jeder, den er anrief, würde plötzlich ein Verdächtiger sein. Also ließ er es bleiben und spielte Stunde um Stunde Solitär, bis der Akku leer war. Während der Akku lud, schlief er vor dem lausigen Nachmittagsprogramm im Fernsehen ein.
Er bestellte sich etwas zu essen, wartete, dass der Tag zu Ende ging. Jemand vom britischen Militär rief auf der Hotelleitung an und erklärte, seine Ausgaben würden übernommen werden, da er unfreiwillig festgehalten wurde, und entschuldigte sich für die Unannehmlichkeit, die sich hoffentlich bald klären würde. Silas musste lachen nachdem er aufgelegt hatte, und bestellte sich eine Flasche Whiskey. Dylan hätte es Spaß gemacht. Unannehmlichkeit. Sehr lustig.
Dylan ermordet. Er war bei Kampfhandlungen gefallen. Kampfhandlungen. Ein Massaker. Dylan McK, der beste Pilot, den Silas in seinem Leben gekannt hatte. Er war ein knappes Jahr in Afghanistan gewesen, als es ihn traf. Silas hatte den einzigen Freund, den er da draußen besessen hatte, aus dem Wüstensand gekratzt und in seinen Hubschrauber geschleppt. Er war dabei über die im Kugelhagel zerfetzten Leichen von Frauen und Kindern gestiegen und hatte in die toten Augen des alten Mannes gestarrt, der Dylan ein Messer an die Kehle gesetzt hatte.
In Afghanistan für die Royal Army zu dienen und die schwer bewaffneten Lynx zu fliegen war ein Scheißjob. Über Wochen und Monate immer auf Abruf. Die meisten gingen nach Ablauf ihrer Dienstzeit als gebrochene Männer nach Hause, nicht wenige mit einem seelischen Schaden auf Lebenszeit. Manche schleppten diesen Schaden schon mit sich herum, während sie noch durch den Wüstensand krochen.
Sein Fehler war gewesen, dass er Jay unterschätzt hatte, dass er bis zuletzt nicht begriffen hatte, was Jay geplant hatte und wie weit er dafür gehen würde. Und als er selbst sich hatte zurückziehen wollen, da war Dylan ihm in den Rücken gefallen und hatte sich auf Jays Seite geschlagen. Hatte Dylan etwas von Jays Plänen gewusst? Silas hatte das nie erfahren.
Jeremy Sinclair, Deckname JayJay, Captain eines Platoons der Royal Marines, hatte zwei Helikopter zur Unterstützung angefordert. Seine Mannschaft habe einen hochrangigen Taliban-Anführer in einem obskuren Nest unweit des Khyber Passes aufgespürt und wolle den Kerl ausräuchern. Dylan hatte Silas überredet mitzufliegen. Ruhm und Ehre warteten. Silas hatte nicht mitfliegen wollen, aber er und Dylan waren Flügelmänner, sie arbeiteten immer zusammen und er wollte Dylan nicht im Stich lassen.
Sie hatten das Platoon unter JayJays Kommando in die Berge hinaufgeflogen und in der Nähe des Dorfes abgesetzt. Stutzig war Silas geworden, als er die Schlafmohnfelder gesehen hatte. Mit vorgehaltener Waffe waren die Platoons in die Hütten eingedrungen, hatten Männer, Frauen und Kinder aus ihren Behausungen getrieben. Silas und Dylan, Maschinenpistolen im Anschlag, sollten die Aktion decken. Was die Platoons aus den Hütten holten, war aber kein Bärtiger mit Turban, sondern in Leinen und Packpapier eingeschlagene Pakete, die sie unter Jays wachsamem Blick in die Hubschrauber verluden. Eine Diskussion zwischen Jay und dem Dorfältesten wuchs sich innerhalb von Sekunden zu einem handfesten Streit aus. Jay hatte dem Mann die Pistole an die Schläfe gehalten und abgedrückt, ohne mit der Wimper zu zucken. Kindergeschrei, das Jammern von Frauen. Der eiskalte Befehl des Captains, das Dorf auszulöschen, das sich gegen die Militäraktion zur Wehr setzte und einen Talibanführer versteckte. Befehl war Befehl.
Im Tumult wurden Silas und Dylan getrennt. Silas richtete die Mündung der Maschinenpistole in die Menschenmenge, bewegte den Finger am Abzug, versuchte, nicht hinzusehen. Der Moment, als das kleine Mädchen zu Boden sank, getroffen von einer Kugel aus Dylans Pistole, die ihre Stirn durchschlagen hatte, hatte etwas in Silas zerrissen. Im nächsten Augenblick lag das
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