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Polarrot

Polarrot

Titel: Polarrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Tschan
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natürlich viel handlicher als die großen Töpfe. Wenn die Tube Erfolg hat und ich Auto fahren könnte, dann könnte ich ihr Mann sein. Und nicht nur für die Schweiz, sondern auch für Frankreich, Deutschland, Österreich, Spanien – für ganz Europa. Verstehst du, Willy. Ich muss Auto fahren können, nur so komme ich in der Firma weiter.“
    „Aha, das tönt ja schon anders.“
    „Und?“
    „Und?“
    „Ja, und?“
    „Wie stellst du dir das vor?“
    „Ja, mmmh, du fährst doch auch noch den Dirigenten …“
    „Den Pianisten.“
    „Genau, der hat doch bald ein Konzert hier, habe ich in der Zeitung gesehen.“
    „Ja, übermorgen.“
    „Und, fährst du ihn?“
    „Ja, von der Holbeinstraße ins Casino und wieder zurück.“
    „Perfekt. Also, du bringst ihn hin, holst mich danach beim Marktplatz ab und dann gehen wir auf dem großen Parkplatz vor der Mustermesse üben.“
    „Meinst du, ich lass dich einfach so in diesen Bentley steigen? Vergiss es!“
    „Also komm schon. Ich bin drauf und dran von meinem Weg als Reichefraueneroberer abzukommen, auf ehrbare Weise Geld zu verdienen und gerade du, der ohne meine Geistesgegenwart vielleicht gar nicht mehr unter uns weilen würdest, willst dies verhindern. Also Willy.“
    Willy zog angestrengt an seiner Zigarette, fixierte mit seinem Blick einen Schwan, der am Flussufer grundelte und suchte zuerst nach einer Antwort und dann nach einer Ausrede, wie er Breiters Wunsch ausschlagen könnte.
    „Jacques, das Problem ist, der Pianist, der hat einen Freund. Das darf aber niemand wissen …“
    „Ach komm, das weiß doch die ganze Stadt …“
    „Trotzdem darf es niemand wissen. Und den muss ich dann holen, der geht ganz kurz vor Beginn ins Konzert und verlässt den Saal mit dem ersten Applaus wieder. Oder er kommt in der Pause raus und ich muss ihn wieder zurückfahren. Da bliebe nicht genügend Zeit.“
    „Weißt du was: Ich komme einfach vor das Casino und dann werden wir sehen.“
    „Das machst du nicht!“
    „Doch, das mache ich.“
    „Nein, das machst du nicht!“
    „Vergiss es. Komm wir gehen ins ‚Schiefe Eck‘ ein Bier trinken.“
    Am nächsten Tag, abends um sieben Uhr, stand Breiter mit aufgeweichten Ledersohlen vor dem Casino im Regen und wartete auf den zweifarbigen, beigeschwarzen Bentley. Männer mit Hüten und halbseitig durchnässten Regenmänteln hielten Schirme über ihre weiblichen Begleitungen, die untergehakt hastigen Schrittes zum Eingang des Konzerthauses drängten.
    Das Bildungsbürgertum der Stadt marschierte geschlossen auf: Regierungsräte, Großräte und Professoren, Gymnasiallehrer und leitende Angestellte, Bank- und Chemiedirektoren, kurzum jede und jeder, der beim Höhepunkt der diesjährigen Musikfestspiele gesehen werden wollte. Vor dem Eingang stauten sich die glänzenden Limousinen: Hispano-Suiza, Rolls-Royce, Horch, Bugatti, Mercedes, Delahaye, Lincoln, aber kein Bentley. Die Träume aus Chrom und Blech fuhren diszipliniert einer nach dem anderen vor, uniformierte Chauffeure mit schwarzen Lederhandschuhen sprangen aus den Wagen, spannten auf dem Weg zur Hintertüre große Schirme auf, hielten mit der einen Hand die Türe offen und mit der anderen die Schirme für ihre betuchte Klientel bereit. Aus dem Fond entstiegen Herren in Frack oder leicht gewagten Zweiteilern, gefolgt von Damen, meist in langen Roben, hie und da in beinahe rückenfreien Abendkleidern aus Charmeuse.
    Da war es wieder, dieses Nicht-mehr-warten-Können, dieses zerfressende Verlangen nach Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft. Seit den großen Anlässen, Weihnachtsabenden und Neujahrsfeierlichkeiten im Grand Palace hatte er keine derartige Häufung von Seide, Kaschmir, Perlen, Gold und Diamanten mehr gesehen. Die Selbstverständlichkeit, mit der diese Geschöpfe mit jeder Bewegung, jeder Geste ihr Vorrecht auf die erste Reihe an den Honigtöpfen dieser Erde kundtaten, imponierte Breiter. Dass dabei dem Rest der Welt bestenfalls eine Schnitte alten Brotes mit Melasse oder Vierfruchtmarmelade zugestanden wurde, war Breiter gleichgültig, im Gegenteil, es festigte seinen Willen, nie mehr hartes Brot essen zu müssen.
    „Wir kommen nie aus den Zwischengängen raus“, echoten Vittorios Worte aus jener Nacht nach, in der Breiter unter Einsatz von Hemd und Leben, all die Gesten unerschütterlichen Selbstvertrauens, das Lächeln am Rande der Süffisanz und den selbstsicheren Gang der materiellen Unabhängigkeit mit galanter Leichtigkeit auf die vordersten

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