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Polarrot

Polarrot

Titel: Polarrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Tschan
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in die Nacht hinein über Gott und die Welt, wobei sich Breiter öfters kleiner und größerer Lebenslügen bedienen musste, um mit den Geschichten aus dem reichhaltigen Leben der Witwe Hunziker einigermaßen mithalten zu können.
    Vittorios Kässeli bekamen einen Spezialplatz auf dem ramponierten Bauernbuffet. Die Einmachgläser standen Bauch an Bauch auf dem Deckel des Buffetaufsatzes und klirrten bei jedem Schritt, den Breiter auf den Riemenboden setzte. Sie waren immer noch angeschrieben mit „Essen“, „Miete“, „Wünsche“, „Steuern“, „Kleider“, „Träume“ und „Überraschungen“.
    In „Essen“ waren etwas mehr als 10 Franken drin. Das reichte für etwa zwei Wochen. „Miete“ war leer, da er jeden Ersten des Monats der Witwe Hunziker die 50 Franken übergab. „Steuern“ war ebenfalls leer, da er die jeweils über die „Zinstragende Spar- und Leihkasse Basel“ bezahlte. Am Boden von „Kleider“ lagen knapp 20 Franken in Münzen. Ein neuer Anzug war bald wieder fällig. „Träume“ war ebenfalls leer. Dazu diente das Bankkonto, denn Jacques Breiter träumte immer noch den großen Traum vom finanziell unabhängigen Leben. Aber dafür brauchte es seiner Meinung nach ein gewisses Investitionskapital. Im Einmachglas „Überraschungen“ hingegen befanden sich etwas über 75 Franken. Man wusste ja nie.
    All dieses Geld verdiente sich Jacques Breiter bei einem Kaffeeersatzunternehmen. Auf Empfehlung der Witwe Hunziker, deren Cousin zweiten Grades in der Firma arbeitete, hatte Breiter diese Stellung bekommen.
    Das Unternehmen beschäftigte Breiter vorerst als Ausläufer, doch die Verantwortlichen merkten bald, dass er auch für anspruchsvollere Aufgaben geeignet wäre. So schickten sie ihn als Außendienstmitarbeiter herum, wo er sich auch noch vom kleinsten Kolonialwarenladen, im hintersten Winkel der Schweiz doppelte Mengen „Francks Kaffeeersatz“, „Caro-Kaffee“, „Mühlen Franck“, „Kornfranck“, „Sano“, „Perola“, einen Perlroggenkaffee, oder den vor allem bei Frauen beliebten Feigenkaffee „Enrilo“ ins Bestellbuch diktieren ließ. Daneben führte er in großen Steinguttöpfen auch Senf mit dem klingenden Namen „Helvetia“ im Sortiment.
    Breiter war beliebt bei Kunden und Vorgesetzten. Trotzdem fand sein Anliegen, man möge ihn doch auch nach Deutschland, Österreich oder ins deutschsprachige Elsass schicken, bei der Geschäftsleitung kein Gehör. Breiter hatte etwas übersehen, beschied man ihm doch, dass die Kaffeeersatzprodukte über die deutschen und österreichischen Niederlassungen vertrieben würden. So sah er sich auf Dauer wieder weit weg vom Glanz und Glitter der Welt der vermögenden Fabrikantenerbinnen, der vertriebenen, aber wohlhabenden Fürstinnen und Gräfinnen, den reichen jüdischen Bankierstöchtern und sonstigen begüterten weiblichen Wesen. Statt Fuchsjagden und opulenten Dîners in einem Spiegelsaal, statt sich mit den aktuellen Börsenkursen und Rohstoffmärkten zu befassen, blieb Köbi Breiter angesichts der weltweiten wirtschaftlichen Depression nichts Anderes übrig, als die ländliche Schweizer Bevölkerung dankbar und demütig mit Senf und Kaffeeersatz zu beglücken.
    Und so wartete er an diesem milden Maiabend am Kleinbasler Rheinufer auf seinen Freund, Willy Hebeisen, der vielleicht eine Idee hatte, wie man an der Winkelschraube des Schicksals ein klein wenig drehen könnte.
    Willy Hebeisen war sechs Jahre jünger als Jakob Breiter. Er war auch ein wenig kleiner, hatte dichtes braunes Haar und ebensolche Augen. Breiter half ihm ab und an mit ein wenig Geld aus, da Willys Vater, ein notorischer Säufer und Taugenichts, die schlechte Angewohnheit hatte, an manchen Freitagen Willys Lohntüte im Lohnbüro der Autowerkstatt Aeschenplatz AG vor Feierabend abzuholen. Da Willy noch nicht volljährig war, musste der zuständige Angestellte diese dem Vater aushändigen. An einem solchen Freitag, vor knapp zwei Monaten, hatte sich Willys Vater Fritz wieder einmal die Lohntüte des Sohnes unter tausend Beteuerungen, Notlügen und Beschwörungen aushändigen lassen und machte sich damit schnurstracks in den „Braunen Mutz“ auf, um mit seinen Saufkumpanen einen kräftigen zu heben, da es exakt zehn Jahre her war, dass er sich mit der Messekasse und der langbeinigen, lebenslustigen Sekretärin der Chocolat Tobler SA aufgemacht hatte, ein neues Leben, weg von frömmelnder Frau und balgenden Kindern, als Teilhaber einer Kautschukplantage in

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