Polarrot
bringen könnte, worauf dieser mit Breiter schnurstracks in den Fabrikhof ging, ihm die Türe eines Opels 1,8 Liter Lieferwagen, dessen Aufbau vollkommen aus Holz bestand, aufhielt, ihm den Zündschlüssel in die Hand drückte und forsch sagte: „Dann zeigen Sie es mal, junger Mann. Und wenn was kaputtgeht, arbeiten Sie die nächsten Jahre kostenlos für uns.“
Mit traumwandlerischer Sicherheit betätigte Breiter alle Hebel, startete den Motor und fuhr im Fabrikhof eine Runde mit sauberen Schaltvorgängen. Als er die Holzschachtel wieder sauber geparkt hatte und dem verblüfften Vorgesetzten mit einem süffisanten Lächeln den Schlüssel in die Hand drückte, sah sich Breiter schon durch die wilden Täler Turkmenistans fahren und arabischen Schönheiten Senf in Tuben andrehen. Er wähnte sich auch schon, sie von den Vorzügen von Kaffeeersatz für feine Haut und edlen Teint zu überzeugen, die Schönste von ihnen vor den Altar zu führen und als Senf- und Kaffeeersatzscheich mit immer größer werdendem Harem ein seiner Wichtigkeit entsprechendes und seiner Person würdiges Leben zu führen.
„Junger Mann, ansprechend, ansprechend, melden Sie sich um elf in meinem Büro.“
Um halb zwölf war Breiter Senfvertreter mit eigenem Lieferwagen.
Der Senf in der Tube hatte es in sich. Zwar überzeugte Breiter vorerst nicht die schwarzäugigen Schönheiten in Turkmenistan, sondern die stämmigen Schürzenträgerinnen im vorderen Emmental oder die ausgefuchsten Scharfrechnerinnen aus dem hinteren Entlebuech von den Vorzügen des Tubensenfs – feiner, hygienischer, weniger Schmutz und vor allem: viel, viel länger haltbar –, doch der Anklang des neuen Produkts war so groß, dass Breiter sich schon Hoffnungen machte, die Senf-Revolution auch bald in Frankreich und Deutschland an die Frauen hinter den Ladentheken heranzutragen.
Doch nach Deutschland führte für Breiter weiterhin kein Weg, da die Firma eine Gesellschaft mit deutschen Wurzeln war und über genügend Zweigstellen verfügte, die den Senf in deutsche Lande brachte, den Franzosen fehlte die nötige Schärfe und überhaupt war doch Senf urfranzösisches Kulturgut, und schon alleine die Vorstellung von Andouillette mit einer schweizerischen gelben Paste aus der Tube kam einem Landesverrat gleich.
So blieb Breiter in der Schweiz und auch da gab es viele reiche Mädchen und Frauen, aber die würden den Toggenburger in ihm, den Alpbuben, den Kuhhirten und Geißen-Köbi sofort riechen. Und zwar von der ersten Sekunde an, beim ersten „Grüezi“, an den langen „ooos“, den weichen „gs“ oder dem „oi“ statt „eu“. Da halfen weder rahmengenähte Schuhe, schicke Zweiteiler noch bester Benimm. Zudem hatte er sowieso keinen Zugang zu diesen Kreisen.
Mit der Idee, Chauffeur in reichen Häusern zu werden, wenigstens als Zusatzerwerb, lag er Willy Hebeisen Woche für Woche in den Ohren und dieser zeigte auch immer wieder mal Gehör für Breiters Anliegen, doch eine Stelle ließ sich nicht finden. So war Breiter, wenn er in seiner Wohnung im warmen Bett lag, im Ofen die in feuchtes Zeitungspapier eingewickelten Briketts vor sich hin verglühten, er zur Decke schaute und keinen Schimmelflecken entdecken konnte, mit sich und der Welt nicht unzufrieden, setzte doch die darniederliegende Wirtschaft dem kleinen Land inmitten Europas ziemlich zu. Er, Breiter, musste nicht Morgen für Morgen am Rheinhafen Schlange stehen, um vielleicht für ein paar Rappen den lieben langen Tag Rheinkähne entladen oder Kohlesäcke schleppen und nachts in der Notschlafstelle keine Auge zudrücken zu können, damit ihm das sauer verdiente Kleingeld nicht von zahnlosen Mitbewohnern gestohlen würde. Nein, er lag da, über der Witwe Hunziker, deren regelmäßiges Schnarchen durch den unbehandelten Dielenboden zu ihm heraufdrang, und konnte sich dank der Kässelis immer noch den Luxus leisten, nach Höherem zu streben.
Zumal er von den St. Galler Behörden schriftlich benachrichtigt worden war, dass die Witwe Anna Breiter, geb. Abderhalden, 14. März 1891, Bürgerort Nesslau, am 17. Januar 1934 verstorben ist, und er, Jakob Breiter, geb. 9. Februar 1909, Bürgerort Stein, ersucht werde, den Nachlass zu übernehmen, bestehend aus diversen Möbeln, Schmuck, anderen Gegenständen und einem Bankkonto der St. Gallischen Kantonalbank, dessen Inhalt als Barschaft gegen Vorweis dieser Vorladung, des Passes und des Familienbüchleins ausbezahlt würde. Es sei darauf hingewiesen, dass eine
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